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Auch wegen Sarrazin: Türkei beklagt Rechtsruck in Europa

Auch mit Blick auf Sarrazins Thesen wirft der türkische Europaminister vor dem Erdogan-Besuch in Berlin den konservativen Parteien Westeuropas Versagen vor.

Kurz vor dem Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan bei Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin hat die Regierung in Ankara den konservativen Parteien in Westeuropa vorgeworfen, rechtsradikalen Gruppen nachzueifern. Die jüngsten Erfolge rechtsgerichteter und populistischer Parteien in Westeuropa seien besorgniserregend, sagte der türkische Europaminister Egemen Bagis dem Tagesspiegel. „Genauso bedenklich ist die Übernahme von rechtsgerichteter Rhetorik und Politik durch die so genannte rechte Mitte“, sagte Bagis. Als Beispiel nannte er die Ausweisung der Roma aus Frankreich. Diese sei schließlich nicht von rechtsgerichteten Parteien angeordnet worden, „sondern von einer Mitte-Rechts-Regierung“.

Zusammen mit Erdogan will Bagis in den kommenden Tagen die Bundesrepublik besuchen. Es ist die erste hochrangige Begegnung zwischen der türkischen und der deutschen Regierung seit dem Streit um die migrationspolitischen Thesen des ehemaligen Bundesbankers Thilo Sarrazin. Bagis und Erdogan wollen sich am Freitag auch das EM-Qualifikationsspiel zwischen Deutschland und der Türkei in Berlin anschauen

Im Tagesspiegel-Gespräch äußerte sich Bagis mit Blick auf Sarrazin besorgt über „Versuche bestimmter Gruppen in Westeuropa, Migranten aus der Türkei oder anderen Ländern zu Sündenböcken zu machen“. Umso erfreulicher sei gewesen, dass Sarrazins Thesen heftige Empörung ausgelöst hätten und dass Sarrazin von seinem Posten bei der Bundesbank habe zurücktreten müssen. Zwar habe die erste Generation türkischer Migranten in Deutschland erhebliche Probleme bei der Integration gehabt, räumte Bagis ein. „Aber wenn ich mir die junge Generation der Deutsch-Türken anschaue, sehe ich beeindruckende Erfolgsgeschichten von der Politik bis zur Literatur, von der Wirtschaft bis zum Kino.“

Bagis, Minister für EU-Angelegenheiten und Chefunterhändler der Türkei bei den EU-Beitrittsgesprächen seines Landes, betonte im Zusammenhang mit der Migrations- und Islamdebatte die Bedeutung einer EU-Mitgliedschaft seines Landes. „Ich glaube, dass der türkische Beitritt zur Europäischen Union das beste Gegenmittel gegen Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie wäre.“ Er erinnerte an das Europamotto „In Vielfalt geeint“.

Fünf Jahre nach Beginn der türkischen Beitrittsgespräche im Oktober 2005 ist die Fortdauer der türkischen Europaverhandlungen jedoch gefährdet. Die EU hat acht von 35 Verhandlungskapiteln gesperrt, weil sich die Türkei weigert, ihre Häfen für Schiffe aus der zur EU gehörenden griechischen Republik Zypern zu öffnen. Gegen weitere Kapitel hat die Regierung in Nikosia ihr Veto eingelegt, andere sind durch den Einspruch Frankreichs blockiert. Türkische Diplomaten befürchten, dass die Verhandlungen Ende des Jahres deshalb ganz zum Erliegen kommen könnten.

Als Ausweg forderte Bagis die Umsetzung des sogenannten Direkthandels zwischen der EU und dem türkischen Teil Zyperns. Brüssel hatte nach dem Nein der griechischen Zyprer zu einem UN-Friedensplan im Jahr 2004 angekündigt, die internationale Isolierung des türkischen Sektors mithilfe des direkten Handels mit dem Inselteil zu durchbrechen. Die griechischen Zyprer blockieren die Umsetzung dieser Ankündigung jedoch, weil sie eine Aufwertung des türkischen Sektors durch den Direkthandel verhindern wollen. Zypern ist seit einem griechischen Putsch in Nikosia und einer anschließenden türkischen Militärintervention 1974 geteilt.

Sollten die EU-Staaten dem Direkthandel zustimmen und ihre Schiffe in den türkischen Teil Zyperns schicken, dann werde auch die Türkei ihrerseits ihre Häfen und Flughäfen für griechisch-zyprische Schiffe und Flugzeuge öffnen, sagte Bagis. Dann könnten die acht wegen des Zypern-Konflikts gesperrten Verhandlungskapitel freigegeben werden. „Es kann doch nicht sein, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union zur Geisel eines einzigen Mitgliedslandes und dessen enger Auslegung der eigenen Interessen werden“, sagte Bagis.

„Wir arbeiten geduldig, lernen unsere Lektion und hoffen, den Beitrittsprozess erfolgreich abzuschließen“, sagte Ministerpräsident Erdogan am Montag in Sofia nach Gesprächen mit dem bulgarischen Regierungschef Bojko Borissow. Die Türkei werde allerdings kontinuierlich auf ihrem Weg zur europäischen Integration aufgehalten, kritisierte Erdogan. (mit dpa)

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