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Junge Demonstranten rennen durch den Rauch, der aus brennenden Reifen auf den Straßen Bagdads aufsteigt.

© AFP/Ahmad al Rubaye

Aufstände und Demonstrationen: Wie Perspektivlosigkeit im Irak zu Gewalt führt

Die gewaltsamen Aufstände im Irak zeigen: Eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und neuem Nationalismus bewegt vor allem junge Iraker. Eine Analyse.

Ein Land, das mit seiner Ölförderung jeden Tag fast 300 Millionen Dollar verdient, wo aber trotzdem Millionen Menschen arbeitslos sind und mit häufigen Stromausfällen, schlechter Trinkwasserversorgung und baufälligen Schulen und Krankenhäusern leben müssen: Die Protestwelle im Irak ist der Aufschrei einer jungen Bevölkerung ohne Zukunftsperspektive. Korruption, Misswirtschaft und der Einfluss proiranischer Gruppen haben den Zündfunken für den Aufstand geliefert. Selbst wenn die Behörden die Unruhen niederschlagen, werden sie damit die Gründe für das Systemversagen und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht beseitigen können.

Geistlicher fordert Neuwahlen

Fast 100 Menschen sind bisher bei dem Aufstand seit dem vergangenen Dienstag getötet worden, fast 4000 wurden verletzt. Die Regierung versuchte den Protesten zu begegnen, indem sie vorübergehend Ausgangssperren verhängte und den Zugang zum Internet sperrte. Demonstranten berichteten zudem vom Einsatz scharfer Munition durch die Polizei. Auch einige der Regierungsgegner werden radikaler. Unbekannte Bewaffnete griffen in Bagdad die Büros von drei Fernsehsendern an. Auch Parteibüros wurden attackiert.

Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi sprach zwar von „legitimen Forderungen“ der Demonstranten, legte bisher aber keine Pläne für grundlegende Reformen vor. Die politische Polarisierung in Bagdad verschärft die Krise. Eine geplante Sondersitzung des Parlaments scheiterte am Samstag an einem Boykottaufruf des schiitischen Geistlichen und Politikers Muktada al Sadr, der Neuwahlen fordert.

Mit seinen riesigen Ölvorräten könnte der Irak ein wohlhabendes Land sein. Der US-Feldzug gegen Bagdad im Jahr 1991, Sanktionen der Uno, das blutige Chaos nach der Entmachtung von Diktator Saddam Hussein durch die USA im Jahr 2003 und die Gewalt des Islamischen Staates (IS) haben die Nation im Zweistromland jedoch ruiniert.

Seit der Vertreibung des IS aus dem Irak vor zwei Jahren könnte es aufwärts gehen, doch nun werden Politik und Behörden zu Bremsklötzen. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International liegt der Irak auf Rang 168 von 180 erfassten Staaten – nur zwölf Länder auf der Welt sind noch korrupter.

Immer mehr Iraker fliehen ins Ausland

Im irakischen System gehe es mehr um die Verteilung von Pfründen an Anhänger der jeweils herrschenden Parteien als ums Gemeinwohl, kritisiert Bilal Wahab vom Nahost-Thinktank Washington Institute in den USA. Als Beispiel verwies Wahab in einer kürzlich verfassten Analyse auf den derzeitigen irakischen Staatshaushalt: Mehr als die Hälfte des Geldes wird für Beamtengehälter und Pensionen ausgegeben.

Anders als bei früheren Spannungen im Irak spielen konfessionelle Gegensätze zwischen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit im Land diesmal keine Rolle: Iraker aller Glaubensrichtungen wollen ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Fast 60 Prozent der rund 40 Millionen Iraker sind jünger als 24 Jahre, jedes Jahr drängen rund 700.000 neue Jobsuchende auf den Arbeitsmarkt. Jeder fünfte junge Iraker ist arbeitslos. Das Problem dürfte in Zukunft noch drängender werden: Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um rund eine Million Menschen.

Angeheizt werden die Spannungen durch ein neues Nationalbewusstsein, das im Kampf gegen den IS entstand und das sich gegen den großen Einfluss des großen Nachbarn Iran richtet. „Raus mit dem Iran“, lautete nach Medienberichten einer der Schlachtrufe der Demonstranten in Bagdad. Die Macht des schiitischen Iran im Irak stützt sich weniger auf religiöse Gemeinsamkeiten als auf militärische Hilfe im Kampf gegen den IS sowie auf die Finanzierung mächtiger proiranischer Milizen und deren politische Vertretungen.

Einer der Auslöser für die derzeitigen Unruhen war die Entlassung von Generalleutnant Abdul-Wahab al Saadi, der als Vize-Chef der irakischen Antiterrortruppen gehen musste. Für viele Iraker ist Saadi wegen seiner führenden Rolle im Kampf gegen den IS ein Volksheld. Sie sehen seine Ablösung als Folge des iranischen Einflusses. Proiranische Gruppen sollen den General als zu USA-freundlich kritisiert haben. Für den Iran ist der Irak ein wichtiger Teil des „schiitischen Bogens“, einer Einflusszone Teherans vom Iran bis zum Mittelmeer.

Die Hoffnungslosigkeit treibt immer mehr Iraker aus dem Land. In der benachbarten Türkei bilden die Iraker inzwischen die stärkste Gruppe bei den ausländischen Immobilienkäufern: Jede fünfte Wohnung, die in den vergangenen vier Jahren in der Türkei an einen Ausländer verkauft wurde, ging an einen Iraker. In Deutschland stellen die Iraker nach den Syrern die zweitstärkste nationale Gruppe der Asylbewerber.

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