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Politik: Außer Kontrolle

Nach dem Anschlag in Tschetschenien spricht der russische Verwaltungschef vom Versagen der Sicherheitskräfte

Mehr als 40 Menschen hat es diesmal getroffen. Dazu kommen mehrere hundert Verletzte. Das ist die Bilanz des jüngsten Anschlags in Tschetschenien, bei dem am Montagmorgen offenbar mehrere Selbstmordattentäter einen mit Sprengstoff beladenen Laster in eine Betonwand rammten. Dahinter befanden sich mehrere Verwaltungsgebäude. Rettungsmannschaften sind nun damit beschäftigt, die Trümmer der zerstörten Häuser wegzuräumen. Wie viele weitere Tote sie dort finden werden, vermochte am Montagabend noch niemand zu sagen. Sechzehn Meter im Durchmesser misst der fünf Meter tiefe Krater, der nach der Explosion entstand. Betontrümmer und zerfetzte Leichen wurden durch die Druckwelle durch die Luft geschleudert.

Im vergangenen November hatten die russischen Fernsehzuschauer ähnliche Bilder zu sehen bekommen: Damals flog der Regierungspalast in Grosny in die Luft, und mehr als 100 Menschen wurden unter seinen Trümmern begraben. Am Montag nun schlugen die Separatisten in Snamenskoje zu – das lässt aufhorchen. Die Siedlung im Nordosten der Kaukasusrepublik ist Zentrum eines Kreises mit traditionell pro-russischer Bevölkerung. Hier war es bisher weitgehend ruhig. Ohne Unterstützung durch Einheimische, darin sind sich Beobachter einig, wäre es dem Selbstmordattentäter kaum gelungen, die zahlreichen Straßensperren zu passieren.

Der russische Verwaltungschef in Grosny, Ahmed Kadyrow, räumte indirekt ein, dass Moskaus Truppen die Lage in der Kaukasusrepublik nicht unter Kontrolle haben. Die Sicherheitskräfte seien nicht im Stande, die Gewalt der Rebellen zu stoppen, sagte Kadyrow nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax. Als mutmaßliche Drahtzieher kommen seiner Ansicht nach sowohl der 1997 zum Präsidenten gewählte Aslan Maschadow als auch der landesweit als Terrorist gesuchte Schamil Bassajew in Frage. Auf dessen Konto gehen gleich zwei spektakuläre Geiselnahmen: Im Sommer 1995 brachten seine Kämpfer im südrussischen Budjonnowsk zeitweilig bis zu 1500 Menschen in ihre Gewalt und im vergangenen Oktober 800 Gäste des Musicals „Nord-Ost“ in Moskau.

Der neue Anschlag beweist ein weiteres Mal, dass Moskau trotz des Referendums im März, bei dem sich über 95 Prozent der Stimmberechtigten für eine neue Verfassung und Wahlen aussprachen, bei der Befriedung der abtrünnigen Republik keinen Schritt weiter gekommen ist. Kein Wunder: Der von Mitarbeitern des Kremls und Putin selbst als „Beginn des politischen Prozesses in Tschetschenien“ hochgejubelte Volksentscheid ließ die Separatisten außen vor. Nicht nur die Bilanz, auch die Wahl des Zeitpunkts für den Anschlag bringt den Kreml in Verlegenheit: Am vergangenen Sonntag – also wenige Stunden vor dem Anschlag – wurde offiziell bekannt, dass Putin am Freitag seine Jahresbotschaft vor beiden Kammern des russischen Parlaments verlesen wird. Diese gilt als Höhepunkt des politischen Lebens in Moskau. Der Auftritt ist zum einen eine Art Bilanzpressekonferenz, zum anderen dient sie der Ausgabe neuer Direktiven für Regierung und Präsidentenamt.

Wegen nahender Wahlen wird die Rede diesmal mit Spannung erwartet: Vor allem mit seinem Versprechen, in Tschetschenien Ordnung zu schaffen, gelang es Putin im März 2000, mit mehr als 50 Prozent aller Stimmen bereits nach dem ersten Wahlgang in den Kreml einzuziehen. Der Anschlag zeigt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit nach wie vor Welten liegen.

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