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„Das Amt muss zum Mann kommen.“ Kretschmann zitiert gerne den früheren Landesvater Erwin Teufel (CDU).

© Kai Pfaffenbach/Reuters

Baden-Württemberg: Winfried Kretschmann: Der grüne Teufel

Katholik und Naturliebhaber, ernsthaft und authentisch – Winfried Kretschmann gibt fürs Bürgertum kein Feindbild ab. Jetzt ist er Favorit für die Wahl im Südwesten der Republik.

Stuttgart/Berlin - Die Gesundheitsschuhe hat er diesmal zu Hause gelassen. Winfried Kretschmann hält sich im grellen Licht des Studio 1 des Südwestrundfunks in Stuttgart an seinem Pult fest. Es ist Donnerstagabend, die Spitzenkandidaten sind angetreten zur letzten Fernsehdebatte vor der Wahl.

Kretschmann steht im Mittelpunkt, und das ist nicht nur räumlich zu verstehen. Die Herren rechts und links von ihm müssen befürchten, dass ihnen am Wahltag die Show gestohlen wird: Kretschmann, Kandidat der Grünen, gilt inzwischen als aussichtsreichster Anwärter auf das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten.

Ihn selbst scheint diese Aussicht eher zu beschweren. In der Fernsehrunde ist jedenfalls wenig zu spüren von großen Energieschüben oder der adrenalingestützten Konzentration, die andere Politiker im Wahlkampfendspurt an die Macht trägt. Der 62-Jährige wirkt seltsam verhalten, fast schon missmutig. Die Mundwinkel zieht er meist nach unten, seine Gesten wirken ein wenig matt. Wahlkampf kann anstrengend sein. Vor allem, wenn man so gestrickt ist wie Winfried Kretschmann.

Schon am Anfang verspricht sich der Ex-Gymnasiallehrer für Ethik, Biologie und Chemie – und zwar ausgerechnet dann, als es um die Kernkraft geht. Von einem „klaren Ja“ redet er, bevor er sich schnell korrigiert: Ein klares Nein zur Atomkraft, das hätten die Grünen doch von Anfang an gewollt. Später nennt er die japanischen Katastrophenmeiler „Fujiyama“ statt Fukushima. Und Zehntausende von Zuschauern sehen, wie der Mann mit dem stahlgrauen Bürstenhaarschnitt verärgert über sich selbst den Kopf schüttelt.

In anderen Zeiten würde ein solcher Auftritt unangenehme Fragen nach sich ziehen. Hat Kretschmann die Kraft, das Hightech-Bundesland zu führen, die wirtschaftliche Lokomotive Deutschlands zu steuern? Ist er robust genug, dem politischen Druck zu widerstehen, den das erste grün-rote Regierungsbündnis der Republik zwangsläufig auf sich ziehen würde?

Aber die Zeiten, sie sind spätestens seit Fukushima nicht mehr so, dass smarte Auftritte im Fernsehen mehr zählen als Ernsthaftigkeit und Authentizität. Und die sprechen dem Grünen nicht einmal seine schärfsten politischen Gegner ab.

Dass Regieren Spaß machen könnte – so ein Satz käme Winfried Kretschmann nicht in den Sinn und schon gar nicht über die Lippen. Das Spielerische, das den Stil von Gerhard Schröder oder Joschka Fischer bestimmte, ist ihm genauso zuwider wie der prinzipienscheue Pragmatismus einer Angela Merkel. Für Kretschmann hat Politik Werten zu folgen. Und Regieren bedeutet zuallererst Pflichterfüllung. Für so einen ist Wahlkampf kein Lebenselixier, sondern demokratische Notwendigkeit.

„Das Amt muss zum Mann kommen, nicht der Mann zum Amt“, sagt Kretschmann gern. Der Satz ist ein Zitat des früheren Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Mit ihm, dem letzten CDU-Regierungschef, der als Landesvater von allen geachtet wurde, verbindet den Grünen nicht nur die gemeinsame Geburtsstadt Spaichingen. Für beide ist der katholische Glaube auch politische Richtgröße. Manche nennen Kretschmann einen „grünen Erwin Teufel“, und sie meinen es nur halb im Spott.

Überhaupt taugt Kretschmann zu vielem, nur nicht zum Feindbild des Bürgertums im Südwesten. Naturliebhaber und Wanderer, Mitglied im Kirchenchor und im Schützenverein – an seiner Lebensführung kann auch der konservativste CDU-Anhänger keinen Anstoß nehmen.

Wahlkampfauftritt im oberschwäbischen Sigmaringen. In der Cafeteria des Josefinenstifts spricht der Grüne an diesem Tag vor 40 Zuhörern über Japan und die Folgen. Danach kommt ein älteres Paar auf ihn zu und sagt: „Den Trittin, den würden wir nicht wählen. Bei Ihnen überlegen wir uns das.“

Tatsächlich ist Kretschmann eine Art grüner Gegenentwurf zu Trittin. Als er 1979 im Südwesten die Grünen mitgründete, tat er das „aus Liebe zur Natur, einer empathischen  Liebe zur Natur“, wie er sich erinnert. Leicht hatte er es in der Partei nie, die in ihrer Anfangszeit alles besser wusste, alles ändern wollte, und das sofort. Und der bis heute das eigene gute Gewissen manchmal wichtiger ist als der kleine Fortschritt im echten Leben. Den Realpolitiker („Realo“) Kretschmann nervt das so sehr, dass er die Politik sogar schon einmal aufgeben wollte.

Seine Aversion gegen jeden Anflug von Radikalismus rührt aus seiner Zeit beim „Kommunistischen Bund Westdeutschlands“ (KBW), dem er als Student beitrat. Dort lernte er vor allem eines: dass Ideologen keinen Widerspruch ertragen und deshalb jede Form von Meinungsfreiheit zerstören. Nach dieser Erfahrung habe er sich „Machtfantasien abgewöhnt“, sagt Kretschmann.

Vielleicht waren ihm auch deshalb die Proteste gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 nicht immer ganz geheuer. Die Maßlosigkeit und Unerbittlichkeit auch auf Seiten der Projektgegner hatten ihn erschreckt. Zu hartem Widerspruch allerdings hat er sich nicht aufgerafft. Auf einen Bruch mit den „Wutbürgern“ wollte er es dann doch nicht ankommen lassen. Er hätte den Grünen im Wahlkampf damit auch geschadet.

Wäre er ein guter Ministerpräsident, dieser Winfried Kretschmann?

Er wäre jedenfalls keiner, der sich die Dinge leicht macht. Dass sich der eher missmutige Wahlkämpfer nach einem Sieg quasi über Nacht dauerhaft in einen smarten Lächler verwandelt – das kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Es ist schließlich kein Spaß, wenn das Amt zum Mann kommt.

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