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Politik: Ballern auf alles, was sich bewegt

Im Krankenhaus von Grosny türmen sich die blutigen Laken - die russische Armee will es nicht gewesen sein, allenfalls ein bisschen. Auf Spurensuche im Kaukasus.

Im Krankenhaus von Grosny türmen sich die blutigen Laken - die russische Armee will es nicht gewesen sein, allenfalls ein bisschen. Auf Spurensuche im Kaukasus.Elke Windisch

Das Bullenkälbchen ist vor Angst halb irre. Heftig stampft es mit den Hufen auf den Asphalt und zerrt am Strick. Weg aus dieser Welt fremder aufdringlicher Gerüche und unheimlicher Geräusche! Doch alle Fluchtwege sind versperrt. Auf der einen Seite durch sichtlich nervöse Milizionäre, auf der anderen durch einen kilometerlangen Stau aus Autos und Fuhrwerken. Die meisten in bedenklicher Schräglage, weil sie auf den Grünstreifen am Rand der Fernverkehrsstraße Rostow-Baku ausweichen mussten: Die Panzerspähwagen der russischen Infanterie haben nicht nur Vorfahrt, sondern auch Überbreite. Zügig rollen sie Richtung Osten, die Luken sind dicht und die Mündungen ihrer Rohre auf die am Straßenrand kampierenden Flüchtlinge gerichtet. Eine Provokation.Noch macht sich der Zorn der tausendköpfigen Menge nur mit vereinzelten Buh-Rufen Luft. Doch jeden Moment kann hier die Hölle losgehen.

Fast 180 000 Tschetschenen sind seit Kriegsbeginn ins benachbarte Inguschetien geflüchtet. Es ist mit 300 000 Einwohnern Russlands kleinste Teilrepublik, souveränes Schlusslicht in Wirtschafts- und Sozialstatistiken und im Kreml nicht gut angeschrieben, weil Präsident Ruslan Auschew wiederholt als Querdenker auffiel. Entsprechend kühl reagierte die Moskauer Zentralregierung auf Hilferufe Auschews, der angesichts immer neuen menschlichen Strandguts, das in seiner Republik landet, eine Katastrophe kommen sieht. Die russischen Militärs teilen die Befürchtungen. Am Samstagmittag ließ der Kommandeur der russischen Westgruppe im Kaukasus die Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien dichtmachen. Vor dem Schlagbaum am Grenzübergang Karabulak drängen sich jetzt jene 3000, die nach dem Massaker auf dem Markt in Grosny aus der Stadt geflohen sind.

Bilder der grausam verstümmelten Leichen gingen um die Welt. Nur den Russen wurden sie weitgehend vorenthalten. Auch eine plausible Erklärung steht noch aus. Zunächst leugnete das Verteidigungsministerium jede Beteiligung an dem Blutbad. Am Freitagmittag räumte ein Stabssprecher der kämpfenden Truppe ein, in Grosny habe eine "Sonderoperation" stattgefunden, bei der "mit nicht militärischen Methoden" - also durch einen Terroranschlag - ein illegaler Waffenmarkt vernichtet worden sei. Die Vorgesetzten in Moskau dementierten wenig später: In der Nähe eines Waffendepots habe es Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei rivalisierenden tschetschenischen Gangs gegeben, das Depot sei bei dem Schusswechsel in die Luft gegangen. Am Abend verkündete die halbamtliche russische Nachrichtenagentur Itar-Tass ihre Version: Die Tschetschenen selbst hätten einen Sprengsatz gezündet, um Mitgefühl zu erregen und Russland weltweit zu diskreditieren. Haarsträubende Widersprüche, die Vizegeneralstabschef Walerij Manilow am Samstag auszuräumen versuchte: Die Armee habe wohl bei der Sonderoperation mitgemischt, aber sie habe damit nur die Abrechnung der Banden ausgelöst. Dabei habe sich ein Munitionsdepot selbst entzündet.

Quatsch, meint Inguschetiens Präsident Auschew. Der 45-Jährige brachte es in der Sowjetarmee bis zum General der Artillerie und hat mehrere Jahre Afghanistan hinter sich. Für ihn gibt es keine Zweifel, dass Moskau taktische Raketen abgefeuert hat. Keine Scuds, wie die Tschetschenen behaupten, sondern deren Nachfolger, die ebenfalls nicht lenkbaren Totschka-U. Von Inguschetien aus konnte man sie fliegen sehen, weshalb Auschew vermutet, dass sie von einer Übungsbasis im benachbarten Nordossetien abgeschossen wurden. Der Startbefehl, sagt Auschew, müsse im Kreml erteilt worden sein: Raketen dieser Klasse würden von Luna-Rampen abgefeuert, und über die verfügten allein die Raketentruppen, die nur auf Weisung von Oberbefehlshaber Boris Jelzin scharf schießen dürfen. Hätten die sechs Boden-Boden-Raketen ihr Ziel nicht wieder einmal um gut 500 Meter verfehlt, wäre die tschetschenische Armee mit einem Schlag führerlos geworden. Eigentlich, sagt Auschew, hätten die berüchtigten Präzisionsschläge dem tschetschenischen Generalstab gegolten, wo gerade eine Kommandeursberatung stattfand.

"Auf dem Markt war Hochbetrieb, viele kamen gerade von der Arbeit", sagt der 27-jährige Saur, der aus einer Entfernung von mehreren Hundert Metern Zeuge des Dramas wurde: "Alles geschah in Bruchteilen von Sekunden, die meisten konnten nicht einmal mehr schreien." Saur und seine Frau Madina haben in Grosny ein kleines Lebensmittelgeschäft. Den Sturm der Russen hatten sie für Ende Oktober erwartet, und aus Angst vor Plünderungen wollten sie die Stadt eigentlich auf keinen Fall verlassen. Nach dem Angriff machten sie sich dennoch auf den Weg. Nun aber ist die Grenze zu, und sie müssen wieder umkehren.

Obwohl es schon ziemlich dunkel ist, fährt Saur ohne Scheinwerfer. "Die Russen ballern auf alles, was sich bewegt. Wahrscheinlich weil sie Schiss haben. Sie haben auch allen Grund dazu", sagt Saur und tritt das Gaspedal durch. Madina pflichtet ihm bei: "Auf ein Knie können sie uns zwingen, nicht auf beide. Sagen Sie das den Menschen in Deutschland! Wir werden immer wieder aufstehen. Immer wird den Russen im Kaukasus der Boden unter den Füßen brennen. Immer, immer, immer." Madinas Worte gehen in Schluchzen über. Eingezwängt zwischen Taschen sitzt sie auf der Hinterbank, auf ihren Knien wälzt sich der sechsjährige Selimchan unruhig im Schlaf hin und her. Schon in Grosny war er stark erkältet und fieberte. Nach dem Warten an der Grenze fürchtet Madina Komplikationen.

Fast drei Stunden dauert die Fahrt bis Grosny. Unscharf zeichnet sich die Stadt als dunkle Masse vor dem nur wenig helleren Horizont ab. Licht hat nur, wer ein dieselgetriebenes Notstromaggregat besitzt. Russland hatte schon Anfang Oktober Gas und Strom abgeschaltet. Auf dem Platz der Unabhängigkeit, wo bis 1996 das Präsidentenpalais stand, das die Russen 1995 im Kampf gegen General Dudajew zur Ruine geschossen haben, brennen Lagerfeuer. Busse sind aufgefahren, die Freiwillige an die Front bringen.

"Auch wir fühlen uns seit Donnerstag als Frontschweine", sagt Oberarzt Aslan Musajew, in dessen übernächtigtem Gesicht ein Drei-Tage-Bart sprießt. Das Krankenhaus Nr. 9 hat die meisten Schwerverletzten des Anschlags vom Donnerstag aufgenommen. Feldbetten stehen in den Gängen, in den Ecken türmen sich Haufen blutiger Laken, von überall her kommt Stöhnen. Längst sind Musajew schmerzstillende Mittel und auch Antibiotika ausgegangen, nach denen Saur für seinen kranken Sohn fragt.

Auch auf dem Markt, der vor dem Krieg einer der größten im Nordkaukasus war, sind kaum noch Medikamente zu haben. Seit der Blockade fehlt es am Notwendigsten. Viele Stände haben ohnehin geschlossen. Vor allem dort, wo Lederjacken, Jeans und Billig-Elektronik gehandelt werden und wo angeblich der Bandenkrieg stattfand. Von einem Waffenlager oder Munitionsdepot islamischer Extremisten weiß Basarhändler Bislan Sultanow nichts. Wie die meisten hat auch er Schießprügel unterm Ladentisch und Patronen dazu im Angebot. "Die haben wir im letzten Krieg bei den Russen für Wodka getauscht", sagt er, "aber die verursachen nicht solche Zerstörungen, wenn sie in die Luft gehen. Während meiner Armeezeit im Fernen Osten ist ein ganzes Depot explodiert. Dabei gab es aber nur drei Verletzte. Das hier war etwas anderes." Bislan zeigt ein Bruchstück, das angeblich von der russischen Rakete stammt. Sogar Reste der Seriennummer des russischen Herstellerbetriebes haben sich erhalten. Dann organisiert Bislan für Saur eine Packung Aspirin und zwei "Granaten". So nennen sie hier Wodka, der streng verboten ist, seit Tschetschenien sich zur islamischen Republik erklärte.

Saurs Heimatdorf Serschen-Jurt liegt 45 Kilometer östlich von Grosny. Es ist wie ausgestorben. Am Samstag nach dem Angriff der russischen Kampfflieger, sagt Imam Ahmet, der Dorfgeistliche, habe er gleich acht Leichen bestatten müssen. Zwei Häuser sind bis auf die Grundmauern zerstört, in anderen finden sich noch Spuren der Bewohner: ein Spiegel und ein Fotoalbum mit angekohlten Rändern. Die aufgeschlagene Seite zeigt ein Hochzeitsbild.

Mit Moskaus Aufklärung sei es nicht weit her, kommentiert Imam Ahmet die neuesten Präzisionsschläge der Russen. Das Lager der Islamisten unten am Fluss ist mehr als zwei Kilometer vom Dorf entfernt, außerdem sind die Kämpfer längst an der Front. Die Russen, glaubt Ahmet, täten gut daran, Mäßigung von ihrer Armee zu verlangen. Im eigenen Interesse. "Welche Garantie gibt es denn, dass sie gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht ebenso rücksichtslos vorgehen, wenn höhere Staatsziele das angeblich gebieten?" © 1999

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