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Hans-Dietrich Genscher.

© dpa

Begegnung mit Hans-Dietrich Genscher: List und Laune

Über die heutige FDP redet er nicht so gern. Hans-Dietrich Genscher spricht – wie alle Menschen – lieber von seinen Erfolgen. Der größte war seine historische Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung. Der jüngste: der wundersame Chodorkowski-Coup.

Die Zeiten, in denen Hans-Dietrich Genscher sich gleichzeitig sowohl auf dem Flug nach New York als auch auf dem Rückflug von dort befand und sich somit selbst über dem Atlantik begegnen konnte, sind vorbei. Schwer zu kriegen ist er immer noch, pausenlos unterwegs. Zum einen gehört er zum Mobiliar dieser Republik, ist überall, wo Jubiläen begangen und Geburtstage gefeiert werden. Und natürlich ist er auch in Geschäften unterwegs, persönlichen – davon später – und humanitär-politischen.

In Berlin trifft man ihn im Zweifel im Adlon. Er wartet auf einer Bank in der Rezeption, liest die Meinungsseite des Tagesspiegels und zitiert sofort daraus, pflaumt den Besucher freundschaftlich an. Für Atmosphäre und Einstimmung hat der 86-Jährige schon immer ein gutes Gefühl gehabt, das gehörte bereits zu seinem Erfolgsgeheimnis, als er die große Diplomatie noch nicht entdeckt hatte. Dann sitzt er einem gegenüber, entspannt, in sich ruhend, als hätte er nicht gerade eine lebensbedrohende Krankheit überlebt – die wievielte war es eigentlich? –, studiert die Speisekarte, schaut sein Vis-à-vis an und sagt dann, mit einem kleinen Fragezeichen in der Stimme: Die haben hier ein wunderbares, mageres Eisbein. Mit Sauerkraut und Kartoffelbrei. Und vergessen Sie den Mostrich nicht, Fräulein. Dazu passt ein Bier.

Dass er hier sitzt, wenige Wochen nach dem gelungenen Chodorkowski-Coup, ist ein kleines Wunder. Hans-Dietrich Genscher ist wieder mal Rekonvaleszent. Im Herbst hatte er sich im häuslichen Schwimmbad verletzt, eine Sepsis, eine Wundrose. Kann man mit Antibiotika in den Griff kriegen. Dumm nur, lebensgefährdend, da sich die Erreger der Wundrose auf körperfremdes Material stürzen.

Er steckt voller Anekdoten

Und Genscher hat körperfremdes Material in sich, eine künstliche Herzklappe, eine vom Schwein. Kein ungewöhnlicher Eingriff heute, diese Operation, aber in Kombination mit dem Wundroseerreger von den möglichen Folgen her eben doch. Wenn’s schiefgeht, ist es das Ende. Er hatte, wieder mal, einen guten Arzt. Und außerdem musste ja noch dieser Michail Chodorkowski rausgeholt werden. Bei Putin war Genscher deswegen gewesen, das Placet für diese Hilfsaktion hatte er sich vorher bei Angela Merkel geholt, und sie gleich gebeten, für ihn um Audienz beim starken Mann Russlands nachzusuchen. Das Gespräch fand auch schnell statt, mit gutem Ende, wie wir wissen. Der erste Kontakt mit dem russischen Industriellen, der unfreiwillig zum Dissidenten geworden war, stammte aus Berliner Zeiten, als Genscher Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gewesen war und Chodorkowski als Gast dieser nach wie vor eminent wichtigen Vereinigung begrüßen konnte.

Mit Hans-Dietrich Genscher zu reden heißt immer, in die jüngere Vergangenheit zu reisen, und ist höchst vergnüglich. Er steckt voller Anekdoten, ist ein guter Beobachter, er lästert gerne. Dass Genscher, wenn überhaupt, und auch dann nur auf Insistieren, weniger gern vom Hier und Jetzt der Freien Demokraten als vom Hier und Jetzt des Regimekritikers Chodorkowski spricht, liegt nicht daran, dass die FDP Genscher nicht mehr nahe ist. Im Gegenteil. Sich für die FDP nicht mehr zu interessieren, das wäre, als kappte er seine Wurzeln. Aber die Leidensfähigkeit des Menschen ist begrenzt, und mit den Liberalen verbindet sich im Moment vieles, aber das Wort „Erfolg“ gehört nicht dazu. Die Befreiung des Michail Chodorkowski hingegen war ein großer Erfolg, wie so manches im Leben des Hans-Dietrich Genscher unter strikter Missachtung des eigenen, ziemlich desolaten Gesundheitszustandes erkämpft.

Die Frage, wie groß sein Einfluss in der FDP noch ist (Ich kann niemand zwingen, auf mich zu hören, sagt er fast ein bisschen unwirsch), ob er Westerwelle mal was geraten habe (Ja, habe ich, immer mal wieder, auch was er lassen soll), ob ihm die Ausrichtung der Partei gefallen habe (Kernthemen hat sie verraten, schimpft er vor sich hin, diese blöde Einengung auf die Steuerermäßigung) – all das kann man ansprechen, und er weicht nicht aus, obwohl er lieber über anderes reden würde. Man kennt sich seit über 40 Jahren, aber auch alten Bekannten gegenüber befasst sich Genscher, wie jeder Mensch, lieber mit seinen Siegen als mit seinen Niederlagen.

Seinen Einfluss in der FDP spielt er eher herunter

Und die Geschichte der FDP der letzten Jahre, sagen wir mal: die Geschichte der FDP seit der Bundestagswahl 2009, ist eben eher eine Abfolge von Pannen, zu denen auch noch Pech kam, und am Ende stand eine handfeste Pleite, das vom Wähler verordnete Insolvenzverfahren auf Bundesebene. Was von der Firma noch zu retten ist, ob ein Wiederaufbau mit neuem Management und verbessertem Angebot gelingt – das ist eine Frage auf Wiedervorlage, spätestens im Mai bei der Europawahl oder im August und September bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.

Anders als die FDP ist Genscher auch 22 Jahre nach seinem Rücktritt vom Amt des Außenministers noch immer im Spiel, geschäftlich und politisch. Über manches, was er da in seinem guten Namen tat, runzelten Beobachter die Stirn. Promotion für autokratische Regime, die sich sumpfblumenartig in den Staaten der früheren Sowjetunion ausbreiteten, das war nicht gut fürs Image. Er verteidigt das dennoch, manches muss man stabilisieren, damit sich Besseres draus entwickeln kann, meint er wohl. Immerhin wurde kontrovers darüber gesprochen. Über die FDP auch. Westerwelle hatte der Partei ein neues Lebensgefühl gegeben, in die Wahl 2009 hinein. Sagt Genscher heute. Sagt es immer noch mit Respekt, aber auch mit einem Schuss Nachdenklichkeit. Inzwischen weiß er: Ein Lebensgefühl hält meistens nicht lange, trägt vielleicht eine Generation Golf, aber auf einem Lebensgefühl kann man nicht dauerhaft eine Partei aufbauen.

Der Segen des Altmeisters

Und dann eben dieser katastrophale Start als Außenminister. Genschers Augen gehen bei diesem Thema in die Ferne, ein Schuss Resignation ist in seinem Gesicht, fast Bitterkeit. Keiner hat wie Guido Westerwelle zehn Jahre davon geträumt, das Erbe des großen Hans-Dietrich G. antreten zu können. Und keiner scheiterte so.

Das ist vorbei. Genscher spielt seinen Einfluss in der FDP eher herunter. Fakt ist aber, dass ohne den Segen des Altmeisters keiner etwas werden konnte. Fakt ist auch, dass Genscher fast hilflos mehreren Kandidaten nacheinander diesen Segen gab, was sollte er tun, ohne als Parteizerstörer dazustehen. So viele Hoffnungsträger standen nicht Schlange.

Wahrscheinlich hat Hans-Dietrich Genscher, der Lehrmeister, auf den der Zögling Westerwelle nicht hören mochte, im Gegensatz zu dem alles richtig gemacht 20 Jahre zuvor, als er den Zeitpunkt für seinen Abgang selbst bestimmte. Der Stern Helmut Kohls war im schnellen Sinkflug, das Ansehen seiner schwarz- gelben Koalition an der Wende 1991/92 etwa so miserabel wie das der rot-gelben ein Jahrzehnt zuvor, als Genscher und Lambsdorff das Ausstiegsszenario aus der Regierung Schmidt entwickelten. Hinzu kam: Für ihn war nichts mehr zu tun, alles war erreicht. Irgendwann im Sommer 1991 hatte er zu seiner Frau gesagt: „Ich glaube, es ist Zeit. Ich sollte aufhören. Lassen wir die Sache mal bis Weihnachten liegen, dann reden wir.“ Er erzählt das auf die Frage, warum er damals denn nun wirklich so Knall auf Fall abgetreten sei. So Knall auf Fall war es eben doch nicht. Weihnachten redeten sie miteinander, die Genschers. 1992 trat Genscher als Außenminister zurück.

Genschers Politik: Ein Experiment gegen das Misstrauen

Rückblick. Deutschland wieder vereint. Der Ostblock als Bündnis zusammengebrochen, weil die von Moskau abhängigen Staaten Ost- und Mitteleuropas entschlossen ihre Westorientierung vorantrieben. Eine neue Welt-, mindestens aber eine neue Europaordnung zeichnete sich ab. Es sah für eine kleine Weile so aus, als sei ein langes, dunkles Kapitel der Weltgeschichte vorbei. Und er, Hans-Dietrich Genscher aus Halle an der Saale, Außenminister von 1974 bis 1992, hatte am Konzept für diese Neuordnung mitgeschrieben, ja, hatte es im Kern gegen heftigen Widerstand vor allem aus der Sowjetunion geprägt, denn Moskau hatte etwas ganz anderes vor. Im Adlon erinnert er sich jetzt, dass es damals ja auch hätte anders kommen können. Tatsächlich hatte die UdSSR den späteren Helsinkiprozess angestoßen, um die USA aus Westeuropa herauszudrängen, mit diplomatischen Mitteln. Genschers Politik war ein Experiment gegen das Misstrauen von Franzosen und Engländern, die sich sorgten, Deutschland könne wieder die alte Schaukelpolitik zwischen den Blöcken und den Allianzen beginnen. Die Amerikaner, sagt Genscher heute, waren zu Recht alarmiert, hatten den Deutschen wohl auch misstraut.

Nichts von dem war eingetreten, Deutschland, vereint, fest in Europa verankert. Aber für den Mann, der noch im Sommer 1989, wenige Wochen nach einem Herzinfarkt, in Begleitung eines Kardiologen zur Generaldebatte der Vereinten Nationen nach New York geflogen war, um dort mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges den Dialog zu suchen, über das, was sich womöglich sehr schnell in Europa ereignen könnte, für diesen Mann war nichts mehr zu tun. Deutschland war fest in Europa, unauflösbar. Nicht wieder als Einzelgänger, wie vor 1914, nicht wieder als Störenfried und Brandfackel, wie in den Jahren ab 1933. Das war entscheidend.

Ein hoch begabter Taktiker, listig und nicht zu prinzipientreu

Mit dem amerikanischen Außenminister Baker hatte er sich, wo er nun schon einmal in den USA war, in dessen Arbeitszimmer zu einem Gespräch vor dem Kamin getroffen. Genscher erinnert sich genau an diese Minuten, alles ist präsent, und er ist ein guter Erzähler. Man sprach über die sich abzeichnende vage Möglichkeit einer Annäherung beider deutscher Staaten, gar einer deutschen Wiedervereinigung. Baker fragte Genscher: Wer ist denn dann zuständig? Wir Alliierten? Wie soll das vonstatten gehen? Und Genscher, so erinnert er sich, sagte: Zuerst einmal die beiden Deutschland, nur die können entscheiden, wie es mit ihnen weitergeht. Und dann die Alliierten. Also zwei plus vier, sonst niemand. Dass es auch hier anders hätte kommen können, eine große Friedenskonferenz etwa, monatelange Debatten über das Ob und Wie der deutschen Wiedervereinigung, über Reparationsfragen zum Beispiel, ein Versailles Nummer zwei, unter dessen Last Deutschland zusammenbrechen würde, das war sowohl Kohls als auch Genschers Horrorvision.

Schuld daran war auch der Kanzler selbst mit seinem Zehn-Punkte-Plan vom 28. November 1989, über den er mit niemandem gesprochen, mit dem er sowohl François Mitterrand als auch Maggie Thatcher überrascht, überrumpelt hatte. Zwei Tage später, am 30. November, war Genscher bei Mitterrand, und noch einmal schildert er jetzt im Adlon die dramatische Situation. Der französische Staatspräsident, sehr konzentriert, angespannt, aber völlig ruhig, eröffnete ihm: Frankreich wird immer an der Seite des vereinten Deutschland sein, wenn dieses vereinte Deutschland sich als Teil Europas versteht. Geht Deutschland den europäischen Weg oder den alten?, sorgte sich der französische Präsident.

Eine Mischung aus Fuchs und Elefant

Der alte Weg – das war der, der in zwei Weltkriege geführt hatte. Und weil Kohl immer noch zögerte, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, sah das für Frankreich wie der Versuch einer neuerlichen Grenzrevision aus: Pommern, Schlesien, Masuren, Königsberg, Siebenbürgen. Wenn es in diese Richtung geht, sagte Mitterrand dem deutschen Außenminister, dann wird es auch wieder die alten Allianzen geben – Frankreich und England an der Seite Russlands, der Sowjetunion. Das Entstehen eines Vierten Reichs – ein Begriff, den die linke Tageszeitung „Libération“ eingeführt hatte – würde Frankreich keinesfalls hinnehmen.

Man hat diesen Hans-Dietrich Genscher mit einer Mischung aus Fuchs und Elefant verglichen. Von schier unerschöpflicher Geduld, ein hoch begabter Taktiker, listig und nicht zu prinzipientreu, um nicht auch einmal einen langfristigen Erfolg um den Preis des kurzfristigen Verzichts auf Rechthaberei ansteuern zu können.

Der ganze KSZE-Prozess, an dessen Ende die mächtige Sowjetunion ein Recht auf freien Zugang zu Informationen unterschrieb, den berühmten Korb III von Helsinki, auf den sich Vaclav Havel und die Charta 77, auf den sich Solidarnosc und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR berufen konnten, heute ist das alles im Geschichtsbuch. Genscher ist ein Teil jener globalen Generation vor allem von Männern, die in verschiedenen Rollen Historie mitgeschrieben haben, ohne dass ein Schuss gefallen ist – Helmut Schmidt, Henry Kissinger, George Bush Senior, Michail Gorbatschow, Helmut Kohl, soweit jene, die noch leben. Genscher mag an jenem Mittag im Berliner Adlon lieber über Europa als Zukunftswerkstatt, als Versuchslabor für eine neue Weltordnung reden als über die FDP.

Europa ist eine Friedensvision, das ist sein Vermächtnis

In diesem Jahr, in dem sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährt, beschwört er sein Gegenüber: Europa ist eine Friedensvision, das ist sein Vermächtnis, auf das ist er stolz. Und nach den Reden von Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz bewegt ihn natürlich auch die Frage, ob sich da eine neue deutsche Außenpolitik abzeichnet, eine, nun, sagen wir: lautere Politik. „Mit drei Sätzen ist das nicht zu sagen“, setzt er vorsichtig an, „oft ist es nur eine Frage der Wortwahl.“ Auf den Bundespräsidenten geht er gar nicht ein, über den Außenminister äußert er sich explizit: „Ich habe eine ganz positive Haltung zu Steinmeier.“ Aber dann kommt, fast zornig, dies: „Wir standen damals nicht am Spielfeldrand!“ Das versteht nur, wer weiß, dass Steinmeier in München das Stichwort gab: „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“

Abschiede von Genscher haben wie Begrüßungen oft Humoreskes, Komödiantisches. Diesmal klingt es so: Die Pensionshöchstgrenze für ehemalige Minister der Bundesrepublik Deutschland erreicht man nach 23 Jahren Amtszeit: „Ich hab’s geschafft“, triumphiert er und prustet los vor Lachen, „als einziger in der Geschichte der Bundesrepublik.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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