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Politik: „Beide sind keine großen Staatsmänner“

Alfred Grosser über Schröder und Chirac, die Zukunft Europas – und die Politik von US-Präsident Bush

In Paris und Berlin werden die deutschfranzösischen Beziehungen bejubelt – machen sich Deutsche und Franzosen etwas vor?

Teilweise schon, aber von absolutem Jubel kann ja auch nicht die Rede sein. Es ist eine nüchterne Wärme, wärmer als am Anfang, als es zwischen Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac sehr schlecht ging. Heute versucht man, so viel zusammen zu machen wie möglich. Man hält zusammen, was allerdings von den anderen EU-Ländern negativ wahrgenommen wird. Einer der Minuspunkte ist: Es gibt viel zu wenig Europa-Initiativen, zu wenig Ideen und zu wenig Aktionen. Momentan müsste man neue Impulse ins Spiel bringen, um die Verfassung wieder in Gang zu bringen. Wenn man hier nicht schnell macht, dann glaubt kein Mensch mehr, dass Europa eine Verfassung braucht. Es läuft ja auch ohne.

Wie gut ist die Zusammenarbeit wirklich?

Selbst in Zeiten, wo es schlecht geht, geht es noch hundert Mal besser zwischen Deutschland und Frankreich als mit jedem anderen Land. Die Gesellschaften sind sehr stark miteinander verknüpft, und das ist schon lange so. Seit Jahrzehnten. Vieles allerdings läuft nicht mehr bewusst, weil die jüngere Generation diese Dinge nicht mehr so interessant findet. Für sie ist das gute Verständnis zwischen beiden Ländern selbstverständlich geworden. Neulich habe ich erzählt, dass ich sehr begeistert war von der neuen Rheinbrücke zwischen Straßburg und Kehl, kein Zeichen einer Grenze, keine Zollbeamten, keine Polizei. Die Leute, denen ich das erzählte, die sagten: Na und?

Was trennt Präsident Chirac und Bundeskanzler Schröder?

Nicht sonderlich viel. Beide sind in meinen Augen keine großen Staatsmänner, sie wollen nichts anderes, als Macht ausüben. Das zeigt sich jetzt bei den gescheiterten Verhandlungen über eine europäische Verfassung. Was geschieht? So gut wie nichts. Vor allen Dingen: Man redet nicht. Wo sind die Reden von Chirac und Schröder, in denen sie den Zustand beklagen und sagen, was wir jetzt tun müssen, um endlich eine Verfassung zu bekommen?

Ist der Verfassungsentwurf noch zu retten?

Man kann meines Erachtens mit den Polen und den Spaniern verhandeln. Ist das, was die beiden fordern, wirklich so wichtig, dass man nicht Kompromisse finden könnte? Ich halte diese Stimmgewichtung für einen ganz unwichtigen Punkt. Im Grundsatz muss zuerst einmal gefragt werd en: Was wollen wir? Auch wenn man es nicht sofort merkt, Blair, Aznar, Chirac und Schröder sind im Grunde genommen auf derselben Linie. Sie wollen nämlich nichts anderes, als möglichst viel nationale Macht erhalten.

Ihren Worten ist zu entnehmen, dass die großen Worte über das starke Europa für ziemlich heuchlerisch halten?

Ja, wobei im Grunde ja eigentlich nichts Konkretes gesagt wird. Wenn Sie die Reden von Schröder und Chirac lesen, stellen Sie fest: Sie bleiben total unklar bei dem Punkt, was sie mit Europa eigentlich wollen. Sie sprechen zwar dauernd von Europa als Macht, aber ohne Institutionen hat man keine Macht, auch keine wirtschaftliche. Der Euro könnte zum Beispiel eine europäische Staatlichkeit fördern, aber er steht im luftleeren Raum. Was ist eine Währung, wenn es keine gemeinsame Wirtschaftspolitik gibt?

Bedroht die Idee eines Kerneuropa, wie es Chirac vorschwebt, das europäisch-amerikanische Verhältnis?

Unter Bush bedroht alles dieses Verhältnis. Bush ist der unglaublichste Präsident, den es seit langem gegeben hat, diese angebliche totale amerikanische Überlegenheit, das Recht, alles überall zu tun. Das ist schon unglaublich. Dass jemand einen solchen Weltmachtanspruch hat, dass er sagen kann, es gibt kein Recht für mich. Alles, was ich tue, ist Recht, weil ich Amerika bin, also das war seit langem nicht mehr da. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.

Kürzlich war die Rede von einer politischen Union zwischen Frankreich und Deutschland. Was halten Sie davon?

Rein gar nichts. Das hat niemand ernst gemeint, das ist überhaupt nicht machbar. Ein Hirngespinst. Man soll so viel wie möglich zusammen machen und sich wenigstens an die Regeln halten, die schon vertraglich festgelegt sind. Zum Beispiel: Seit vier Jahrzehnten ist man verpflichtet, dem jeweils anderen seinen Haushalt zu präsentieren, bevor man ihn dem jeweiligen Parlament vorlegt, aber das ist nicht gemacht worden.

Und nun haben beide Staaten den Stabilitätspakt gebrochen . . .

Ja, aber noch schlimmer ist die Tatsache, dass man von Polen und den anderen Beitrittsländern verlangt, die Stabilitätskriterien bei der Aufstellung des Haushalts einzuhalten und sie selbst nicht erfüllt. Das hat die Situation mit Polen und den anderen Beitrittsländern, nach den abfälligen Bemerkungen, ja geradezu Beschimpfungen Chiracs gegenüber den Neuen, noch verschärft und letztlich die Katastrophe herbeigeführt.

Sie sprechen immer wieder davon, dass Europa Visionen fehlen. Welche könnten das sein?

Zum Beispiel die Vorschläge des deutschen Außenministers, wonach die EU-Kommission eine Art Regierung werden soll und der Ministerrat eine Stellung bekommen soll wie der Bundesrat. Nicht wie heute, wo die nationalen Regierungen weiterhin das letzte Wort bei der Gesetzgebung haben.

Kürzlich hat Frankreichs Präsident Chirac Bundeskanzler Schröder bei einer wichtigen EU-Sitzung in Brüssel vertreten. Könnten Sie sich vorstellen, dass sich Frankreich einem deutschen EU-Außenminister anvertrauen würde?

Ja, warum nicht. Aber mein Traum wäre ein anderer, und leider bleibt das ein Traum: Weil der britische Sitz im UN-Sicherheitsrat ja praktisch ein zweiter amerikanischer Sitz ist, sollte Frankreich eines Tages sagen, unser Sitz ist ein europäischer Sitz, und wir Franzosen fragen jedes Mal die Europäische Gemeinschaft, bevor wir eine Entscheidung im Sicherheitsrat treffen. Aber das wird nicht so sein. Dazu bräuchte man viel Willen.

Das Interview führte Sabine Heimgärtner.

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