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Politik: Beim Reformkurs volle Kraft zurück?

Brüssel sieht EU-Beitritt der Türkei in weiter Ferne

Ein halbes Jahr nach der feierlichen Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU ist die Zeit der Schönredner endgültig vorbei. Nach und nach kehren beide Seiten zu einer realistischeren Sicht der Beziehungen zurück.

Von einer Annäherung der Türkei an westliche Liberalität und Rechtsstaatlichkeit kann derzeit nicht die Rede sein. Im Gegenteil: In Brüssel verstärkt sich der Eindruck, dass die Regierung des gemäßigten Islamisten Recep Tayyip Erdogan das Rad der Reformen wieder zurückdrehen will, die ihr im vergangenen Jahr als Schlüssel fürs Vorzimmer der EU gedient haben. „Wir müssen feststellen, dass sich in der Türkei seit der offiziellen Aufnahme der Beitrittsverhandlungen endgültig nichts mehr bewegt hat“, sagt die Vorsitzende der Türkeidelegation des Europäischen Parlaments, Renate Sommer. Nach einem Besuch des parlamentarischen Ausschusses in Ankara und Gesprächen mit den Botschaftern von EU-Staaten zieht die Christdemokratin eine ernüchternde Bilanz: Die türkische Regierung sei dabei, einige der auf Druck der EU erreichen Reformen „nach und nach wieder einzukassieren.“ Das von der Regierung eingebrachte Antiterrorgesetz zum Beispiel würde dazu führen, dass mindestens 20 Prozent der nach dem Strafgesetzbuch definierten Verbrechen künftig als Terrorakte eingestuft werden könnten. Die Meinungs- und Pressefreiheit, die ohnehin engen Regeln unterliege, drohten „erneut massiv eingeschränkt“ zu werden.

Einige EU-Regierungen wollen deshalb bei den Beitrittsgesprächen den politischen Druck erhöhen: Nicht erst am Ende des Verhandlungsprozesses solle man über die politischen Kriterien für die Aufnahme sprechen – Demokratie, Respektierung der Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Minderheiten – sondern schon jetzt. Dagegen wehrt sich nicht nur die Türkei, sondern auch die britische Regierung, die zu zügigen Aufnahmeverhandlungen drängt. Der Konflikt ist vorerst allerdings vertagt: Derzeit findet zu den Themen Kultur und Bildung sowie Wissenschaft und Forschung lediglich eine Bestandsaufnahme der Lage in der Türkei statt. Der interne Streit in der EU und der Eklat mit der Türkei werden kommen – spätestens nach der Sommerpause, wenn die Verhandlungen beginnen sollen.

Zum Schlüsselproblem – und Bruchpunkt – könnte jedoch ein anderer Konflikt werden: Ankara weigert sich weiter hartnäckig, seine Meereshäfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern zu öffnen – obgleich sich die Türkei dazu im Zusatzprotokoll zur Zollunion mit der EU verpflichtet hat. Nach wie vor verweigert die Türkei auch die völkerrechtliche Anerkennung von Zypern, das im Mai 2004 in die EU aufgenommen wurde – im Norden aber immer noch von der türkischen Armee besetzt ist. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn hat die Regierung in Ankara schon vor Wochen gewarnt: Wenn die Häfen und Flughäfen nicht spätestens bis Ende 2006 für alle EU-Staaten geöffnet werden, droht die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen, bevor sie überhaupt richtig begonnen haben. „Die Verhandlungen steuern auf eine Betonmauer zu“, sagt ein europäischer Diplomat.

In Brüssel fürchtet man jedoch, dass Premierminister Erdogan, der sich Hoffnungen auf das Amt des Staatspräsidenten macht, bis zu den Wahlen im Frühjahr 2007 keinen Zentimeter nachgibt. Seine islamisch geprägte Regierung steuert auf allen Feldern – Zypern, Zollunion, Kurden, Leugnung des türkischen Völkermords an den Armeniern – unerbittlich einen Kurs der Härte. Offenbar will Erdogan seinen zunehmend europaskeptischern Wählern demonstrieren, dass er die nationalen Interessen der Türkei gegenüber der EU durchsetzen kann. „Wenn wir das durchgehen lassen, hat die EU endgültig verloren,“ sagt die Vorsitzende der Türkeidelegation des Europaparlaments. „Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu einem Beitritt der Türkei zu türkischen Bedingungen kommt.“

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