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Demonstration vor dem EU-Gipfel am 23. Junin 2022 in Brüssel

© dpa/Wiktor Dabkowski/Zuma Press Wire

Beitritt zur Europäischen Union: Was der Ukraine als EU-Land noch leid tun könnte

Ein EU-Beitritt bedeutet Abstriche bei der gerade verteidigten Souveränität. Und was passiert eigentlich, wenn der Krieg mit Russland nicht vorher endet?

Als der Beschluss kürzlich fiel, sparte Wolodymyr Selenskyj nicht an großen Worten. In einem „historischen Moment“, erklärte der ukrainische Präsident, hätten die Regierungen der Europäischen Union eine der „Schlüsselentscheidungen im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts“ getroffen und seinem Land den lange ersehnten Beitritt zur EU in Aussicht gestellt.

Ratspräsident Charles Michel pflichtete ihm bei. „Wir senden eine Botschaft der Einigkeit und der geopolitischen Entschlossenheit“, sagte er, „wir gehören jetzt zusammen“.

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Das wärmt die Herzen aller, denen die Not der Ukrainer nahe geht und die sich eine starke EU wünschen, die an der Seite der Ukraine Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gegen den russischen Aggressor verteidigt. Oder, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash es ausdrückte: Die Entscheidung für die Ukraine sei richtig, „weil sie es verdient hat und weil es im langfristigen strategischen Interesse aller Europäer ist“.

Doch so verständlich das ist, so unehrlich war der öffentliche Diskurs dazu. Denn die Konsequenzen eine ukrainischen Beitritts werden die EU grundlegend verändern – und noch mehr die Ukraine. Nur wissen die meisten Bürger das gar nicht, und es ist keineswegs klar, ob sie das wirklich wollen.

Sicherheitsgarantie der EU wird kaum diskutiert

So fand die militärische Dimension des Vorgangs kaum Erwähnung. Der Krieg wird ja nicht einfach enden, und dann ist alles wie zuvor. Selbst wenn das Putin-Regime sich irgendwann mit einem Gebietsgewinn begnügt und die Kampfhandlungen vorerst einstellt, bleibt die Drohung eines späteren erneuten Angriffs.

Wäre die Ukraine dann bereits Mitglied der Union, stünde aber die gesamte EU im Krieg mit Russland. Schließlich ist beim Beitritt eine Sicherheitsgarantie inklusive. „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“, heißt es im EU-Vertrag.

Ist die Ukraine wirklich reif für den EU-Beitritt? Und die EU für die Ukraine?
Ist die Ukraine wirklich reif für den EU-Beitritt? Und die EU für die Ukraine?

© dpa/Olivier Matthys

Das kann man gut und richtig finden, aber die meisten EU-Bürger haben über diesen Teil des anstehenden Beitritts nichts von ihren Regierungen gehört. Selbst dem EU-Parlament war das keine Debatte wert. Ja, die Einladung zu Verhandlungen ist zunächst nur Symbolik.

Aber sie weckt Erwartungen, die womöglich nicht vom Willen der EU-Bürger gedeckt sind. Wenn es später zur Abstimmung über den Beitritt in nationalen Parlamenten kommt, kann das den Verantwortlichen böse auf die Füße fallen.

Beitritt könnte Nationalpopulisten in der Ukraine aufbringen

Das gilt umgekehrt auch für Selenskyj und seine Getreuen. Sie feiern den möglichen EU-Beitritt als Beleg der Zugehörigkeit zur europäischen Familie. Doch sie sprechen nie über die gemeinsame Gesetzgebung und Rechtsprechung der EU. Diese ist eine zwingende Konsequenz der ökonomischen Integration und der Kern des europäischen Projekts.

Die damit gewonnene Prosperität hat aber einen politischen Preis: Die Staaten müssen ihre Souveränität teilen. Werden die Ukrainer dazu bereit sein? Werden sie sich europäischen Gerichten unterordnen? Und das, wo sie gerade erst ihre nationale Identität mit viel Blut und Trauer verteidigt haben?

Wer verhindern will, dass einst auch in der Ukraine Nationalpopulisten gegen das „Diktat aus Brüssel“ mobilisieren, der muss jetzt offen darüber sprechen. Der Niedergang des Rechtsstaates in Polen und Ungarn sollte Warnung genug sein.

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