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Belastet und angezählt? Oder doch nicht?: Und ewig schrumpft die Mittelschicht

Politiker umwerben sie und machen ihr Versprechungen. In Talkshows werden die Debatten heftig, wenn es um sie geht. Eine Annäherung an Deutschlands Mitte.

Das Thema geistert durch die Gazetten und Online-Foren. Unlängst redete sich die Runde bei Anne Will die Köpfe heiß. In anderen Talkshows ist es nicht anders. Es geht um ein Lieblingsthema der Deutschen – nämlich die Deutschen.

Verfolgt man die Diskussion in ihrem Auf und Ab samt den bisweilen schrillen Wendungen von ihrem Anfang an, das war so um die Mitte der Nullerjahre, dann fühlt man sich an einen Filmtitel erinnert: Und ewig schrumpft die Mittelschicht.

„Die Angezählten“ lautet da etwa ein Buchtitel, auch vom „Ende der Mittelschicht“ ist bisweilen die Rede. „Mittelschicht zwischen Abstiegsängsten und hoher Belastung“ – so war schon 2011 eine Ökonomendebatte in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ überschrieben. Man hätte die Zeile auch zehn Jahre davor oder zehn Jahre danach wählen können, sie hätte aktuell geklungen.

Dass man die Mitte dringend entlasten müsse, geht Politikern aller Parteien flott von den Lippen – vor allem wenn Wahlen nahen. Mittelschicht ist ein politischer Kampfbegriff geworden. Eine Partei, die sie nicht achtet, stärkt und lobt, die muss damit rechnen, von der Mittelschicht geschrumpft zu werden an der Wahlurne. Wer aber ist gemeint und wer meint sich, wenn es um die Mitte und ihre Erwartungen, Befürchtungen und Belastungen geht?

Die Mitte der Mitte

Viele Wissenschaftler definieren die Mitte als jene Gruppe, die zwischen 70 und 150 Prozent des sogenannten Medianeinkommens liegt. Das teilt die Bevölkerung in zwei Hälften – eine, die weniger verdient, und eine, die mehr hat.

Die letzte Erhebung basiert auf Werten von 2017, und da machte das Medianeinkommen bei Singlehaushalten netto 1946 Euro im Monat aus. Netto heißt: monatlich verfügbares Einkommen nach Abzug aller Einkommens- und Ertragssteuern sowie der Renten-, Arbeitslosen- und gesetzlichen Krankenversicherung samt Pflegeversicherung, wobei Immobilieneigentümer mit einem Zuschlag auf das Einkommen in die Statistik eingehen, um sie quasi mit Mietern gleichzustellen, was die Kaufkraft betrifft (man nennt das Nettomietvorteil).

Demnach, so hat es das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln berechnet, gehören Singles mit einem Nettoeinkommen zwischen 1560 und 2920 Euro zur Mittelschicht (wenn man sich noch einige Dutzend Euro dazu denkt, dann hat man ungefähr den Status von 2020). Da aber die Einstufung auch die ganz unterschiedlichen Bedarfe berücksichtigt, werden die verschiedenen Haushaltstypen auch unterschiedlich eingestuft.

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So gehören Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren zu dieser „Mittelschicht im engeren Sinne“ (wie es das IW formuliert), wenn sie 2020 bis 3790 Euro netto im Monat haben. Kinderlose Paare (also auch jene, bei denen die Kinder nicht mehr zum Haushalt gehören) müssen zusammen auf 2340 bis 4380 Euro netto kommen, um in die Kategorie zu fallen. Bei einem Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren lauten die relevanten Summen: 3270 bis 6130 Euro.

Obere und untere Mitte

Mit solchen Einkommen am oberen Rand ist dann die Zone der Besserverdiener schon erreicht. Freilich dürften sich die meisten Singles, Paare und Familien kaum als ausgesprochen wohlhabend, als Oberschicht oder gar als Reiche empfinden, wenn sie mehr oder weniger über diesen Obergrenzen liegen.

Umgekehrt fühlen sich auch viele Männer und Frauen, die unterhalb der 70-Prozent- Marke beim Medianeinkommen liegen, der Mitte zugehörig. So verwenden die IW-Wissenschaftler die Kategorien „einkommensstarke obere Mitte“ und „einkommensschwache untere Mitte“. Das dehnt die Mittelschicht bei Single-Haushalten auf eine Spanne von 1170 bis 4870 Euro aus. Bei Familien mit zwei Kindern sind es dann 2450 bis 10.220 Euro.

Die darüber liegen, werden als die Schicht der „relativ Reichen“ bezeichnet, darunter schließt sich die Kategorie der „relativ Armen“ an. Man kann auch von Oberschicht und Unterschicht reden, wie es die Allbus-Erhebung tut, die das Mannheimer Gesis-Institut regelmäßig vorlegt. Hier zeigen sich nun aber große Diskrepanzen zwischen objektiver und subjektiver Einordnung.

Kaum jemand mag sich zur Unterschicht zählen (Arbeiterschicht kann man synonym lesen zu unterer Mitte). Und genauso stufen sich nicht alle Bestverdiener als Oberschicht ein, ein Teil von ihnen will offenkundig eher zur oberen Mittelschicht zählen – wie vor gut einem Jahr der CDU-Politiker Friedrich Merz, damals noch hochbezahlter Manager beim Finanzgiganten Blackrock, mutmaßlich also Einkommensmillionär, der sich auch in der oberen Mitte einstufte.

"Falsche Vorstellungen"

Die IW-Ökonomin Judith Niehues, die seit Jahren zur Mittelschicht forscht, verweist darauf, dass viele Menschen sogar „in zweifacher Hinsicht falsche Vorstellungen haben, gemessen an den objektiven Fakten“. Zum einen schätzten sie eben ihre eigene wirtschaftliche Situation anders ein – indem sie sich besser einstuften, vor allem wenn sie zur unteren Mitte oder zu den Ärmeren gehörten, oder sich trotz einer gehobenen Einkommensposition in die klassische Mittelschicht einordneten.

Zum anderen aber verweist Niehues auf die Erkenntnis aus Befragungen, dass sehr viele Menschen glauben, die Gesellschaft stelle sich wie eine Pyramide dar, „also mit vielen Ärmeren, einer kleineren Mitte und wenigen ganz oben“. Nur ist das weit weg von der Realität. „Tatsächlich dominiert die breite Mitte“, sagt Niehues. Die Gesellschaft ist tatsächlich eine bauchige Zwiebel.

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Schon objektiv gehören ungefähr 80 Prozent der Deutschen der Mittelschicht an, wenn man den Begriff weit fasst. Subjektiv aber, also gefühlt (und trotz Pyramidenbild vor Augen), sind es 95 Prozent, die sich zur Mitte zählen. Und das macht die ganzen Debatten über die Mittelschicht, über ihre Sorgen, Nöte und Bedürfnisse, etwas schwierig. Wenn alle Mitte sind, was heißt es dann, dass man sich um „die Mitte“ kümmern müsse? Die im engeren Sinne, die untere oder auch die obere Mitte?

Debatten, die durcheinander gehen

So kommt es, dass die Debatten bei Anne Will und anderswo munter durcheinandergehen und alle aneinander vorbeireden, wenn es zum Beispiel um Entlastungen geht. Dass der Spitzensteuersatz schon Mittelverdiener belasten kann, ist dann eben eine Einschätzungssache: Der Satz von 42 Prozent setzt ein, wenn das zu versteuernde Einkommen bei mehr als 57.000 Euro liegt. Das sind netto bei einem Single etwa 2900 Euro. Damit ist man unter den oberen 20 Prozent der Verdiener. Es gibt da also schon noch einige, die mehr verdienen. Aber eben auch sehr viele, bei denen weniger auf dem Konto landet.

Dass sich die Mär von der schrumpfenden Mittelschicht halten kann, hat wieder mit einem anderen Phänomen zu tun. Es gibt in einer dynamischen Gesellschaft eben immer beruflichen Aufstieg und Abstieg, was sich in den Einkommen niederschlägt. Und tatsächlich hat es anfangs der Nullerjahre eine Entwicklung gegeben in Richtung kleinerer Mittelschicht (und zwar der im engeren Sinn). Das aber hat sich nach 2005 nicht fortgesetzt. Doch viele haben Erfahrungen mit dem Auf und Ab.

Eigentümer und Mieter

Eine Rolle spielt hier auch die Vermögensentwicklung – in einem Land mit relativ großer Vermögensungleichheit ein Faktor, der das Selbstbewusstsein prägt. Der Immobilienboom der Jahre seit der Finanzkrise dürfte innerhalb der breiten Mittelschicht zu Differenzierungen geführt haben.

Eigentümer, vor allem die ohne Schulden, wurden vermögender, Mieter dagegen nicht – und sie haben oft höhere Kosten wegen der Entwicklungen am Immobilienmarkt. Mieter aber finden sich weit häufiger in der unteren Mitte, die so tatsächlich – wenn sie in Regionen mit angespannten Wohnungsmärkten leben – seit einigen Jahren einen finanziellen Druck verspüren, der weiter oben geringer ist.

Andererseits weist Niehues darauf hin, dass die Vermögensungleichheit in anderen Ländern mit starker sozialstaatlicher Prägung auch relativ groß sei. Wer eine ordentliche staatliche Rente bekommt, der muss oder will nicht unbedingt Hauseigentümer werden. Zudem lässt sich der Anspruch an die gesetzliche Rentenversicherung auch als Vermögen werten, was in die Statistiken meist nicht einfließt.

Besorgte untere Mitte

Niehues betont zwar: „Wenn die Beschäftigungssituation gut ist, dann machen sich die Leute tendenziell weniger Sorgen. Und wenn Löhne und Renten steigen, wie in den vergangenen Jahren, dann trägt das zum besseren subjektiven Gefühl noch zusätzlich bei.“ Doch wachsen Befürchtungen - unten stärker als oben.

Laut Niehues zeigt sich in Umfragen eine Zweiteilung. „Eine größere Gruppe innerhalb der Mittelschicht betrachtet die Welt eher positiv und optimistisch“, erklärt die Ökonomin. „Eine kleinere Gruppe dagegen macht sich unabhängig von ihrer ökonomischen Situation Sorgen, die man gesellschaftsbezogen nennen kann. Also Sorgen um Recht und Ordnung, die Zuwanderung nach Deutschland und die Erhaltung des Friedens. In der unteren Mittelschicht fallen die gesellschaftsbezogenen Sorgen besonders groß aus.“ Der Rest weiter oben hat ohne Zweifel auch Gründe für Klagen. Aber er klagt ebenso zweifellos auf höherem Niveau.

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