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Politik: Benzinpreise: Wir sind Europas Volk (Kommentar)

Frankreich, Großbritannien, Belgien, Deutschland: Lkw-Fahrer blockieren Autobahnen, Taxifahrer die Innenstädte - und die Bürger solidarisieren sich, statt sich über die Unannehmlichkeiten zu empören. Dieser Volkszorn ist ansteckend: Im Juni noch brach bei uns die Benzin-Wut-Kampagne der "Bild"-Zeitung rasch wieder zusammen.

Frankreich, Großbritannien, Belgien, Deutschland: Lkw-Fahrer blockieren Autobahnen, Taxifahrer die Innenstädte - und die Bürger solidarisieren sich, statt sich über die Unannehmlichkeiten zu empören. Dieser Volkszorn ist ansteckend: Im Juni noch brach bei uns die Benzin-Wut-Kampagne der "Bild"-Zeitung rasch wieder zusammen. Doch plötzlich ist Schröder in Not - weil die Proteste in anderen EU-Staaten den Unmut der Deutschen erst richtig angeheizt haben. Sie fühlen sich nicht alleine mit ihrem Zorn.

Europas Völker erheben sich gegen ihre Regierungen - auf einmal entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es all die wohlmeinenden Appelle nie zu schaffen vermochten. Den Menschen wird bewusst, wie ähnlich ihre Probleme sind: Es eint sie die Wut über hohe Steuern, die Angst vor dem Euro und BSE-Rindfleisch, das Unverständnis über die Österreich-Sanktionen, der Zorn über EU-Kommissare wie die freigebige Französin Edith Cresson.

Eine erstaunliche Wendung: der Zusammenschluss aus Zorn. Der Protest von unten galt bisher eher als antieuropäisch, war der Versuch, national statt europäisch zu denken. Die Regierungen und die EU-Kommission, auch das Europaparlament versuchen, Europa "von oben" zusammenzuführen: mit der Pädagogik des guten Willens, mit der Beschwörung, es gehe um Krieg oder Frieden, mit der Sanktionierung eines Mitgliedslandes, das angeblich Europas Werte verletzt, mit dem verordneten Gemeinschaftsgeld, mit ausgeklügelten Modellen, wie das "finale Europa" am Ende aussehen könnte. Europa ist moralisch, Europa ist vernünftig.

Aber muss nicht Europa vor allem sinnlich erfahrbar sein, Emotionen wecken? Ginge es nach der Vernunft, dürfte man wohl annehmen, die Arbeitslosigkeit sei ein noch drückenderes Problem als der Benzinpreis. Die EU reagiert, veranstaltet jedes Halbjahr einen Spezialgipfel zur Arbeitslosigkeit, um den Menschen zu signalisieren: Wir sind keine Bürokraten, wir sehen eure Probleme, kümmern uns. Die Regierungschefs haben sogar Selbstverpflichtungen unterschrieben, wie sie die ökonomischen Eckwerte verbessern. Die Menschen quittieren es mit Achselzucken. Auch die Vertiefung der EU, der Binnenmarkt, der Abbau des Demokratie-Defizits, die Erweiterung und der Agrarmarkt: Das alles ist weit weg, zu kompliziert, unverständlich.

Der Benzinpreis ist hautnah, die Mineralölsteuer transparent, auch dank des Euro. Überall wird nun geschaut, wie hoch der Preis in den einzelnen EU-Ländern ist und wie er sich zusammensetzt. Europas Lkw- und Taxifahrer können ihre nationalen Belastungen genau vergleichen.

Natürlich, dieser länderübergreifende Volkszorn schafft noch keine gemeinsame Politik. Aber er schafft eine europäische Öffentlichkeit: Die Bilder von den Protesten in Frankreich und Großbritannien bewegen in Belgien und Deutschland die Gemüter - und umgekehrt. Das stärkt das Bewusstsein der Bürger, dass sie gemeinsame Interessen haben, weit mehr, als der noble Versuch der Kommission und der nationalen Regierungen, Bürger mit einer Grundrechte-Charta für die europäische Idee zu gewinnen. Oder die - berechtigten - Hinweise der Europarabgeordneten, das Straßburger Parlament habe sich zum erfolgreichsten Verbraucher-Anwalt entwickelt. Oder der - misslungene - Ansatz, den Bürgern durch die Abstrafung einer rechtspopulistischen Regierungspartei in Wien ein Empfinden für die gemeinsamen europäischen Werte einzuimpfen.

Insofern dürfte dieses emotionale, in Teilen irrationale Asphalt-Referendum über den Benzinpreis mehr bewirkt haben für Europas Einigung als tausend gute Worte und hunderttausend brave Broschüren.

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