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Das Wrack des abgeschossenen Flugzeugs MH17 wurde von den Ermittlern in den Niederlanden in Teilen rekonstruiert.

© Michael Kooren/Reuters

Update

Bericht zum Absturz über der Ostukraine: Flug MH17 wurde von Buk-Rakete abgeschossen

Fünfzehn Monate nach dem Absturz des Flugzeugs MH17 in der Ostukraine bestätigen die Ermittler: Die Maschine wurde von einer Buk-Rakete abgeschossen. Was ist bisher bekannt?

Die Boeing 777 startet am 17. Juli 2014 um 12.31 Uhr am Flughafen Amsterdam-Schiphol. An Bord sind 283 Passagiere, darunter 80 Kinder, und 15 Besatzungsmitglieder. Doch Flug MH17 der Malaysian Airlines kommt nie in Kuala Lumpur an. Um 16.20 Uhr (Ortszeit) verschwindet die Maschine über der Ostukraine von den Radarschirmen und stürzt in der Nähe des Ortes Hrabowe ab. Im Absturzgebiet herrscht Krieg. Von Russland mit Kämpfern und Waffen unterstützte und gelenkte Separatisten liefern sich erbitterte Kämpfe mit der ukrainischen Armee. Die Trümmerteile von MH17 sind in einem Gebiet von 50 Quadratkilometern verstreut. Niemand an Bord überlebt. Eine internationale Untersuchungskommission hat nun in den Niederlanden ihren Bericht zu den Absturzursachen den Familien der Opfer und später der Öffentlichkeit vorgelegt.

Zu welchem Ergebnis kommt der Bericht?

MH17 wurde der Untersuchung zufolge mit einer Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk abgeschossen. Der Sprengkopf einer Buk-Rakete explodierte kurz vor dem eigentlichen Ziel, im Fall von MH17 auf der linken Flugzeugseite oberhalb des Cockpits. Mehr als 800 Schrapnellteile trafen die Boeing mit hoher Geschwindigkeit. Auf dem Stimmrekorder des Cockpits ist ein lauter Knall zu hören. Die Piloten waren sofort tot, allein im Körper des Ersten Offiziers fand man später mehr als 120 Metallteile. Das Cockpit wurde vom Rumpf des Flugzeuges getrennt.

Der Absturz der Maschine dauerte eine bis eineinhalb Minuten. Mithilfe von Simulationen identifizierten die Ermittler einen möglichen Abschussbereich der Buk von 320 Quadratkilometern. Andere Szenarien als den Abschuss durch eine Buk-Rakete schließen die Ermittler aus – eine Explosion im Flugzeug ebenso wie einen Meteoriteneinschlag oder die zeitweise von Russland geäußerte und mit angeblichen Beweisen versehene Theorie, wonach ein Kampfflugzeug MH17 abgeschossen habe.

Wie wurde ermittelt?

Um die Absturzursache zu klären, wurden Wrackteile von MH17 zur Untersuchung in die Niederlande gebracht. Aus diesen Teilen rekonstruierten die Ermittler Teile des Cockpits, des vorderen Teils des Flugzeugs und der Außenhülle. Außerdem werteten sie Aufzeichnungen der Flugdaten, des Stimmrekorders im Cockpit und des Funkverkehrs aus. An der Ermittlung waren Experten aus den Niederlanden, Malaysia, der Ukraine, Russland, den USA, Großbritannien und Australien beteiligt. Die Niederländische Sicherheitsbehörde übernahm auf Bitten der Ukraine die Leitung der Ermittlungen, die den Regeln und Standards des Abkommens über die internationale zivile Luftfahrt folgten.

Es gehört gemäß diesem Abkommen ausdrücklich nicht zum Auftrag der Untersuchung, die Schuldfrage zu klären. Diese ist Gegenstand einer laufenden strafrechtlichen Ermittlung in den Niederlanden. Neben der Klärung der Absturzursache beschäftigt sich der Bericht auch mit der Frage, warum die Maschine über dem Konfliktgebiet flog. Außerdem gingen die Experten der Frage nach, wieso es bis zu vier Tage dauerte, bis niederländische Behörden den Familien der Opfer bestätigten, dass ihre Angehörigen an Bord waren. Und schließlich mussten sich die Ermittler auch mit der Frage befassen, in welchem Ausmaß die Passagiere den Absturz bewusst erlebten.
Erschwert wurden die Ermittlungen durch Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützten Separatisten in dem Gebiet um die Absturzstelle. Erst im November vergangenen Jahres – vier Monate nach dem Abschuss von MH17 – konnten die Experten den Absturzort erstmals besuchen und die Wrackteile bergen. Bis heute seien nicht alle Wrackteile geborgen, hieß es am Dienstag.

Wie funktioniert eine Buk-Rakete?

Das mobile Flugabwehrsystem Buk wurde bereits in der Sowjetunion entworfen, heute wird es in Russland vom Konzern Almas-Antej hergestellt. Ein Buk-System besteht aus mehreren Fahrzeugen, darunter eines mit dem dazugehörigen Suchradar sowie einer Kommandoeinheit. Ausgerüstet ist das Buk-System mit sogenannten halb-aktiven radargelenkten BodenLuft-Raketen. Es kann Ziele auch in sehr großen Höhen treffen. Anders als beispielsweise die im Afghanistan-Krieg von Mudschahedin gegen sowjetische Flugzeuge eingesetzten Boden-Luft-Raketen, die man auf der Schulter tragen kann, ist der Einsatz einer Buk nicht einfach ohne militärische Ausbildung möglich. Dass die Separatisten ein derart komplexes System bedienen könnten, ist kaum denkbar. Das ist ein weiterer Hinweis auf eine direkte Beteiligung russischer Truppen.

Welche Erkenntnisse gibt es noch?

Der britische Blogger Eliot Higgins, ein Experte für die Auswertung von Informationen in öffentlich zugänglichen Quellen, hat mit einem Team von Freiwilligen den Weg der Buk-Rakete akribisch genau nachgezeichnet. Mehrere Augenzeugen in der Ostukraine hatten an dem Morgen auf Twitter Fotos eines russischen Militärfahrzeugs mit Buk-Raketen veröffentlicht. Die Bilder glich Higgins mit Google Street View sowie Satellitenaufnahmen ab, um den genauen Ort zu bestimmen.

Der am Dienstag veröffentlichte offizielle Bericht bestätigt die Recherchen von Higgins’ Blog „Bellingcat“. Diese gehen allerdings noch deutlich weiter: So gelang es ihm, den mutmaßlichen Abschussort der Buk in der Nähe des Ortes Snischne zu lokalisieren. Außerdem verfolgte „Bellingcat“ auf Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen die Buk bis zu einer Einheit der russischen Armee in der russischen Stadt Kursk zurück.

Wie reagiert Russland auf den Bericht?

Das Wrack des abgeschossenen Flugzeugs MH17 wurde von den Ermittlern in den Niederlanden in Teilen rekonstruiert.
Das Wrack des abgeschossenen Flugzeugs MH17 wurde von den Ermittlern in den Niederlanden in Teilen rekonstruiert.

© Michael Kooren/Reuters

Kurz vor der Vorstellung des Untersuchungsberichts in den Niederlanden lud der russische Rüstungskonzern Almas-Antej in Moskau zur Pressekonferenz. Der Buk-Hersteller machte die Ukraine für den Abschuss von MH17 verantwortlich: „Falls die Boeing mit einem Buk-M1-Raketensystem abgeschossen wurde, wurde sie von einer Rakete vom Typ 9M38 von Saroschtschenske aus getroffen“, sagte der Leiter des Unternehmens. Der Ort war im Juli 2014 offenbar unter der Kontrolle der ukrainischen Regierungstruppen. Ein solches Szenario hatte Moskau bereits zuvor ins Gespräch gebracht. Ein Reporter des Berliner Recherchebüros Correctiv ging dieser Version nach und fuhr nach Saroschtschenske. Doch dort fand er weder Augenzeugen noch Spuren eines früheren Buk-Einsatzes – anders als in der Nähe des Ortes Snischne, der im Separatistengebiet lag. Der von Almas-Antej angegebene Ort liegt zudem außerhalb des 320 Quadratkilometer großen Gebietes, von dem aus die Buk-Rakete dem offiziellen Bericht zufolge abgeschossen worden sein muss.

Der Rüstungskonzern geht auch von einem anderen Sprengkopf-Typ aus als die Ermittler in den Niederlanden - und zwar von einem, den die russische Armee nicht mehr verwendet.

Warum ist die Boeing über das Kampfgebiet geflogen?

Bis zum 17. Juli 2014 wurden mindestens 16 ukrainische Militärflugzeuge und -hubschrauber abgeschossen. Die Separatisten übernahmen die Verantwortung. Drei Tage vor dem Absturz von MH17 wurde ein ukrainisches Transportflugzeug vom Typ Antonow in einer Höhe von 6500 Metern getroffen. Spätestens von da an war klar, dass in der Ostukraine nicht nur kleinere, schultergestützte Boden-Luft-Raketen, sondern viel weiter reichende Waffen im Einsatz waren. Dennoch flogen Passagierflugzeuge weiterhin über die Ostukraine. Fast alle Airlines hätten das Gebiet überflogen, sagte Tjibbe Joustra, Chef der niederländischen Sicherheitsbehörde, am Dienstag. Am 17. Juli 2014 überquerten 160 Passagierflugzeuge das Kampfgebiet. Die ukrainischen Behörden hätten es versäumt, den Luftraum zu schließen, betonte Joustra. Niemand habe in Erwägung gezogen, dass ein ziviles Flugzeug in Reiseflughöhe gefährdet sei. Die ukrainischen Behörden machten nur die Vorgabe, dass eine bestimmte Flughöhe nicht unterschritten werden dürfe.

Wie geht es jetzt weiter?

Ein internationales Tribunal zur Aufklärung des Abschusses von MH17 wird es vorerst nicht geben, weil Russland dagegen im UN-Sicherheitsrat ein Veto eingelegt hat. In den Niederlanden läuft allerdings eine strafrechtliche Ermittlung, ein internationales Team von Polizisten und Staatsanwälten aus Den Haag, Australien, Malaysia, der Ukraine und Belgien soll die Schuldigen finden. Möglich seien Anklagen wegen Mordes oder wegen Kriegsverbrechen, erklärte die niederländische Generalstaatsanwaltschaft Medienberichten zufolge bereits im Juli.

Eliot Higgins und das Team von „Bellingcat“ haben nach eigenen Angaben etwa 120 Angehörige der russischen 53. Luftabwehrraketenbrigade in Kursk namentlich identifizieren können. Die russischen Soldaten hatten immer wieder Bilder in sozialen Netzwerken gepostet. Einer habe 2013 sogar ein Foto veröffentlicht, das eine Namensliste der Angehörigen seiner Einheit zeige, berichtet Higgins. Aus den Spuren im Netz lässt sich offenbar ablesen, welche Soldaten am 17. Juli 2014 in der Ostukraine waren: „Etwa ein Dutzend Namen sollten sich die Ermittler genauer ansehen“, sagte Higgins dem Tagesspiegel. Diese Namen hat er den Ermittlern bereits genannt.

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