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Berlin im Freudentaumel: Was wir aus der Einheitsfeier lernen können

Berlin braucht Augenblicke, in denen sich möglichst alle zusammenfinden. So wie am Sonntag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Auch deshalb darf die Hauptstadt große Projekte nicht scheuen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Nowakowski

Ein poetischer Moment, dieser Stadt geschenkt, die so lange litt. Und nun: Die Grenze fliegt weg wie nichts, in den nächtlichen Himmel. Ein Traum, kein Albtraum mehr. Jeder konnte die unbändige Freude von damals noch einmal spüren, sie wieder neu erfahren, beim Gang entlang dieser licht gewordenen Mauer. Wir sind das Volk!

Hunderttausende haben in den vergangenen Tagen sehen können, wie Berlin sich verändert hat und zusammengewachsen ist. Selbst Alteingesessene lernten erstaunt aufs Neue, wo die Grenze wirklich verlaufen ist. Glückliches Vergessen! Unzählige Menschen haben die Grenze abgeschritten, sich ihrer Schicksale erinnert und Geschichten über getrennte Kieze und geteilte Familien gehört. Mag die Ballongrenze einigen zu wenig intellektuell gewesen sein, eine zu kleine Idee, mit der die Hauptstadt an diesen Moment des Mauerfalls erinnerte – dafür hat es sich gelohnt: für die Tränen der Rührung.

Für das kollektive Bewusstsein sind Momente der Verzauberung wichtig

Es sind diese magischen Momente, die eine Stadtgesellschaft benötigt, um zusammenzufinden und sich ihrer selbst zu besinnen. Das war so, als Christo und Jeanne-Claude 1995 den Reichstag verhüllten – ein gemeinsamer emotionaler Akt, der zur Heilung einer seinerzeit noch tief gespaltenen Stadt beitrug. Für das kollektive Bewusstsein sind Erfahrungen der Verzauberung unverzichtbar, erst recht für das so lange traumatisierte Berlin. Ein Schatz gemeinsamer Erzählungen trägt durch den Alltag. Dazu gehören die wie Dominosteine fallenden Mauerstücke, mit denen vor fünf Jahren des Mauerfalls gedacht wurde, oder die Love Parade, die ebenso weltweit ausstrahlte wie die begeisternde Lebensfreunde 2006 beim „Sommermärchen“.

Bilder zum Erinnern, die eingehen in ein kollektives Gedächtnis. Michael Müller, von seiner SPD als künftiger Regierender Bürgermeister bestimmt, kennt sie und wird sie auf sich wirken lassen müssen. Für ein Regieren über den Tag hinaus. Er fühlt sich „dem guten Regieren verpflichtet“ – es sagt einiges aus, dass er das betonen muss. Denn die Berliner erwarten viel und sind nicht alle Tage sentimental.

Es braucht einen Regierenden, der die Herausforderungen von heute meistert

Darum geht’s: Dass selbstverständliche Dienstleistungen in den Bürgerämter ohne monatelange Wartezeit erledigt werden können, dass keiner auf Elterngeld acht Monate warten muss und dass die Stadt nicht im Baustellenchaos versinkt. Dafür braucht es einen Regierenden, der auf dem Boden der Realität steht und die Herausforderungen von heute annimmt; die Herausforderungen einer wachsenden Stadt, die einen Großflughafen so dringend wie Wohnungen, Schulen und Kitas benötigt.

Es gibt eine Dialektik zwischen den magischen Momenten und dem Grau des Alltags. Die Euphorie, das Glück trägt eine Gesellschaft auch über die Mühen der Ebenen. Die Leichtigkeit der lichten Grenze verweist darauf, was der scheidende Regierende seit 2001 geleistet hat. Klaus Wowereit hat Berlin auf die Weltkarte der großen Metropolen gesetzt, nicht zuletzt mit seinem Gefühl für Gesten, die ausstrahlen.

Inszenierung ist unverzichtbar

So unverzichtbar geerdetes Regieren ist, eine Hauptstadt im weltweiten Wettbewerb kann nicht darauf verzichten, sich selbst zu inszenieren. Das wirkt nach außen und hält die Stadt im Inneren zusammen. Deswegen braucht Berlin immer wieder Augenblicke, in denen sich viele, möglichst alle zusammenfinden. Vielleicht lohnt es sich ja auch deshalb, für Olympia zu kämpfen. Bis 2039, bis zum 50. Jahrestag des Mauerfalls, kann Berlin nicht warten.

Alle Ereignisse während der Feierlichkeiten können Sie auch in unserem Live-Blog nachlesen

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