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Politik: Berlin in Dur

DIE HAUPTSTADTILLUSION

Von Gerd Appenzeller

Berlin hat an Einzigartigkeit verloren. Die Berliner Republik ist eine Schimäre. Berlin entpuppt sich als potemkinsche Hauptstadt ohne Substanz. Die Metropolenblase ist geplatzt.

Hoppla! Was ist das? Eine neue Runde des beliebten „Berlin-bashing“? Vielleicht. Es sind Sätze, zitiert aus aktuellen Beiträgen großer Tageszeitungen zur Lage der Hauptstadt. Die Sätze klingen nicht gut. Dahinter stehen enttäuschte Erwartungen, geweckt in jenem zauberhaften, schier endlosen Sommer des Jahres 1999, als Regierung, Parlament, Verwaltung, Journalisten ihre Arbeit in der neuen Hauptstadt aufnahmen und sich alle am Beginn einer neuen, aufregenden Zeit wähnten. Und es hat sicher nicht nur mit dem Regen zu tun, dass die Bilanz drei Jahre danach so resignativ ausfällt.

Berlin steckt in der Krise. Das finanzielle Elend der Stadt ist an allen Ecken greifbar. Sich fröhlich im Leid einzurichten, ist den diesseitig veranlagten Berlinern nicht gegeben – kein Wunder, nachdem die Verursacher der Misere, nach wie vor auf satten Apanagen ruhend, den Gang der Dinge betrachten können. Aus eigener Kraft alleine wird die Stadt den Weg aus der Schuldenfalle nicht finden.

So wahr das alles ist, taugt es jedoch nicht als Erklärung für die Mollstimmung, die alles überlagert. Mit Berlin selbst hat es zwar etwas, aber nicht so arg viel zu tun. Dass der Machtwechsel des Herbstes 1998 fast mit dem Umzug von Bonn nach Berlin zusammenfiel, war eine zufällige zeitliche Koinzidenz. Als Signal wurde es dennoch empfunden. Aufbruch allerorten. Und so überlagert nun der spürbare Niedergang von Rot-Grün, die wehmütige Endzeitstimmung auch die neue Hauptstadt – als sei das mögliche, denkbare Scheitern einer Regierung nach nur einer Legislaturperiode auch gleichbedeutend mit dem Scheitern der Hauptstadt selbst.

Es mag ja sein, dass die „Süddeutsche Zeitung“ Recht hat, wenn sie als Gemeinsamkeit zwischen Rot-Grün und Berlin feststellt, die Erwartungen an beide seien so groß gewesen, dass sie einfach nicht erfüllt werden konnten. Aber was die Stadt betrifft: Wessen Erwartungen? Dass eine „Berliner Republik“ die bisherige, mit dem n Bonns verknüpfte, ablösen könnte, haben immer alle bestritten, die Berlin und den deutschen Föderalismus kennen. Dass die Stadt keine Drehscheibe zwischen Ost und West geworden ist – ja doch, aber da ist niemand, an den sie diesen Rang verloren hätte. Es dreht sich eben derzeit wenig. Östlicher und protestantischer ist die Republik auch nicht geworden, wie Lothar de Maizière noch 1991 vermuten konnte.

Mehr mitten in der Welt, weniger fernab lebt die Politik schon, seit sie nach Berlin umzog. Vielleicht steckt auch da die Wurzel der jetzt offenbar gewordenen Enttäuschungen. Die Neuankömmlinge der Jahre 1998 und 1999, zumal die Journalisten unter ihnen, haben sich über die Stadt gebeugt wie neugierige Kinder über ein Mikroskop. Von Love Parade und Christopher Street Day hatten sie gehört, von einer, diesmal aber geistigen Goldrauschatmosphäre wie in Dawson City hundert Jahre zuvor. Was sie hinter bröckelnden Fassaden mehr vermuteten als sahen, schien ihnen aufregend, einzigartig und nie zuvor von irgendjemand erkannt oder beschrieben.

Die Berliner selbst, die das alles ja schon wussten, wunderten sich – und genossen das aufgeregte Geraune. Es hat, Hand aufs Herz, die Stadt ja auch weiter gebracht, nach vorne. Sie wird nie wieder so nölig sein wie zuvor. Aber eine Metropolenblase, wie es ganz kluge Köpfe meinten, ist diesmal nicht geplatzt. Der Alltag ist eingezogen, ja. Aber nicht nur in der Musik besteht das Leben aus Moll – und aus Dur.

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