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Politik: „Berlin setzt uns schachmatt“

Vor der EU-Entscheidung über den Beitrittszeitpunkt streitet Bulgarien über den richtigen Kurs

Als Bundespräsident Horst Köhler jüngst die beiden EU-Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien aufforderte, „ihre offensichtlichen Defizite“ im Rechtswesen und in der Korruptionsbekämpfung zu beheben, tat er nichts Ungewöhnliches für ein Staatsoberhaupt eines EU-Mitglieds. Indem die britische Tageszeitung „The Guardian“ seine Worte aber so interpretierte, Deutschland könne die Ratifizierung der Beitrittsverträge der beiden Länder bis ins nächste Jahr hinauszögern und so die Verschiebung ihres EU-Beitritts um ein Jahr bewirken, wurde aus Köhlers Erklärung eine Geschichte, die es in die Schlagzeilen der bulgarischen Medien schaffte. „Berlin setzt uns schachmatt“, titelte die bulgarische Tageszeitung „Dnevnik“.

Anschließend berichtete das Blatt jedoch zutreffend, dass der „Guardian“ seine Alarmthese kaum durch handfeste Indizien belegen konnte. Damit kann die Saison der Spekulationen im Vorfeld der für den 26. September angekündigten endgültigen Entscheidung der Europäischen Kommission über den Beitrittszeitpunkt als eröffnet gelten, und für die kommenden Wochen dürfen noch mancherlei seltsame Gerüchte erwartet werden.

Das politische Klima in Bulgarien ist in diesem heißen Sommer durch Skandale und politische Grabenkämpfe bereits hinreichend angeheizt. Während die sehr große Koalition aus Sozialisten (BSP), Zaristen (NDSW) und der Partei der türkischen Minderheit (DPS) eine positive Bilanz ihres ersten Regierungsjahrs zieht, stellt ihr die zersplitterte rechte Opposition einmütig ein vernichtendes Zeugnis aus. Die rechten Parteien kritisieren, dringend notwendige Reformen im Bereich Justiz und innere Verwaltung, aber auch im Gesundheitswesen und in der Bildungspolitik seien ausgeblieben. Eine disparate Clique an der Regierung, deren einziges Erstreben der Machterhalt sei, habe das Land in die Stagnation geführt, heißt es in oppositionellen Kreisen.

Tatsächlich wurde im Verlauf der letzten zwölf Monate kein einziges großes Privatisierungsprojekt erfolgreich abgeschlossen. Der junge Ministerpräsident Sergej Stanischev weist dagegen auf weiterhin positive volkswirtschaftliche Parameter, das robuste Wirtschaftswachstum, die gewahrte Haushaltsdisziplin und den starken Zustrom ausländischer Direktinvestitionen hin. Daher sieht der Regierungschef das Land auf einem guten Weg, das Ziel des EU-Beitritts zum 1. Januar 2007 zu erreichen.

Auch das politikverdrossene und reformmüde bulgarische Volk zeigt sich mit seiner Politik Meinungsumfragen zufolge nicht allzu unzufrieden. Es scheint zumindest froh, in letzter Zeit von durchgreifenden Veränderungen eher verschont geblieben zu sein.

Vor dem Hintergrund der schwierigen Regierungsbildung im Sommer 2005 und möglicher innerkoalitionärer Konfliktpotenziale halten es politische Beobachter für das eigentliche Verdienst der Koalition, dass es sie überhaupt noch gibt. So war der Sozialist Stanischev mit dem Versprechen angetreten, die seinem Vorgänger, dem Ex-Zaren Simeon Sakskoburggotski, rückübertragenen Güter und Ländereien im Wert von mehreren hundert Millionen Euro schnellstmöglich wieder wegzunehmen. Doch seit der Kabinettsbildung zeigen sich beide als einander loyale Koalitionspartner, die die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Restitution der Immobilien des Zaren erfolgreich zu vertagen wussten und inzwischen an die Justizorgane übergeben haben.

Trotz der Reformmüdigkeit der Bulgaren nach einer mittlerweile sechzehnjährigen Übergangsperiode hat sich der von einigen rechten Parteien nominierte Präsidentschaftskandidat Nedeltscho Beronov für den Wahlslogan „Veränderung!“ entschieden. Nicht nur weil der ehemalige Vorsitzende des Verfassungsgerichts mit 78 Jahren bereits in einem etwas fortgeschrittenen Alter ist, werden ihm gegen den jungen und beliebten amtierenden Präsidenten Georgi Parvanov kaum Chancen eingeräumt. Als der Einzige, der Parvanov gefährlich werden könnte, gilt Boyko Borissov, der charismatische Bürgermeister der Hauptstadt Sofia, der aber offen lässt, ob er antreten wird. Borissov werden Ambitionen auf das Amt des Ministerpräsidenten nachgesagt, wenn – wie er prophezeit – die Koalition nach dem EU-Beitritt auseinanderbrechen sollte und Neuwahlen notwendig würden.

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