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Henry Kissinger im Juni 2012 in seiner Heimatstadt Fürth - vor seinem Porträt.

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Bewundert und gehasst: Henry Kissinger feiert 90. Geburtstag

Henry Kissinger, Ex-US-Außenminister, galt sein Leben lang als Personifizierung der Realpolitik. "Vier Außenminister sind Präsidenten geworden", sagt er. Ihm selbst blieb das verwehrt. An diesem Montag wurde der Mann aus Fürth 90 Jahre alt.

Mit dem Alter wandern seine Gedanken immer öfter in die Kindheit zurück. Dann glänzen seine Augen. Und die tiefe Bassstimme wird lebhafter, zum Beispiel, wenn er von Fürth erzählt, wo er im Mai 1923 auf die Welt kam. In den Jahren vor der Machtergreifung der Nazis habe man sich in seinem Elternhaus kulturell und politisch eher an Wien als an Berlin orientiert, erinnert er sich. Die Familie empfand sich als "bayrische Franken". Der Vater war Lehrer, er "hätte die Maingrenze niemals nach Norden überschritten. Wir fuhren nach Karlsbad, München und Wien". Es klingt, als hätten die Kissingers die preußische Reichshauptstadt als feindliches Ausland empfunden.

Diese Welt ist lange untergegangen. 1934 wurde der Vater mit 46 Jahren in den Ruhestand versetzt, weil er Jude war. Vier Jahre später emigrierte die Familie in die USA, in den deutsch-jüdischen Stadtteil Washington Heights in New York. Das rettete ihre Leben. Elf Angehörige, die in Deutschland blieben, fielen später der Judenverfolgung zum Opfer. Aus Heinz Alfred wurde mit 15 Jahren "Henry" und später einer der meist bewunderten, aber auch meist gehassten Staatsmänner seiner Generation. Bis heute weiß jeder, wer gemeint ist, wenn in der Außenpolitik von "Henry" die Rede ist, da braucht man keinen Nachnamen zu nennen.

Auch äußerlich nähert er nun sich wieder Kindheitstagen an. Sein Körper scheint zu schrumpfen, der markante Kopf mit der strengen Hornbrille sinkt zwischen die Schulterblätter. Wenn er bei den zahlreichen Empfängen rund um seinen 90. Geburtstag im Smoking leicht gebeugt neben seiner Ehefrau Nancy steht, wirkt sie um einen ganzen Kopf größer. Früher war es nur ein halber.

Die Liebe zu Fürth ist ihm ein Leben lang geblieben und ebenso die Leidenschaft für die Spielvereinigung Greuther Fürth. Er erzählt gerne, wie er als Lausbub den Lattenzaun nach Lücken absuchte, um sich ins Stadion zu schmuggeln - immer in der Hoffnung, dass sein Club die deutsche Meisterschaft holt, wie 1926 und 1929.

Gut 80 Jahre später ist er dem Traum noch einmal hinterher gereist. Das hatte er sich und der Vereinsführung versprochen. Falls die Spielvereinigung nach vielen vergeblichen Anläufen in die Bundesliga aufsteigt, werde er beim ersten Heimspiel dabei sein. Es klappte dann erst bei der zweiten Partie am Ronhof. Im Alter von 89 Jahren erzwingt die Gesundheit schon mal eine Anpassung der Pläne. Das ist nichts Ungewöhnliches für einen Mann, der sein Leben lang als Personifizierung der Realpolitik galt. Aus dem erhofften Sieg gegen Schalke, der Fürth nach Henrys Prognose damals, im September 2012, auf Meisterschaftskurs bringen sollte, wurde leider auch nichts. Den Kummer darüber schluckte er mit einer Bratwurstsemmel und - eher Stadion-untypisch - mit einem Glas Sekt herunter. Aus dem bodenständigen Fußballfan ist schon lange ein VIP geworden. Nun, zu seinem 90. Geburtstag, steht leider fest, dass Fürth wieder absteigt. Kein schönes Geschenk.

Henry Kissinger hat viele Lebenspläne scheitern und Träume platzen sehen. Wenn er nun bei den verschiedenen Galas zu Ehren seines runden Geburtstags über die politischen wie die persönlichen Weichenstellungen seines Lebens spricht, dann sticht hervor: Er verfällt weder in Nostalgie noch Altersmelancholie noch in Zynismus. Er hat Großes erreicht, war der erste Amerikaner, der außerhalb der USA geboren war und Außenminister wurde. Dafür feiert die politische Elite ihn nun - und ihr Land gleich mit, denn Henrys Leben ist die Spitzenpolitiker-Variante der Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär.

Das Leben war hart, als die Kissingers 1938 in New York ankamen. Der Vater lernte auf Buchbinder um, die Mutter arbeitete im Catering. Henry und sein jüngerer Bruder trugen mit Jobs in einer Rasierpinselfabrik und als Bäckereikurier zum Lebensunterhalt bei. 1943 wurden sie zur Armee eingezogen. Henry kämpfte in den Ardennen gegen die Wehrmacht und leitete nach dem Krieg eine Abteilung der Spionageabwehr in Deutschland. 1947 kehrte er in die USA zurück und studierte mit Stipendien in Harvard.

Der Mai 2013 war eine Aneinanderreihung von Ehrungen für Kissinger. Beim Dinner des Atlantic Council stimmte Hillary Clinton ein "Happy Birthday" für ihn an. Henry setzt bei solchen Gelegenheiten mit leichter Ironie einen heiteren Ton. Hillary Clinton, die einige Wochen zuvor das Außenministerium an John F. Kerry übergeben hat, versichert er: "Es gibt Hoffnung auf ein erfülltes Leben auch nach dem Amt." Die Spekulationen über ihre erneute Präsidentschaftskandidatur 2016 kommentiert er: "Vier Außenminister sind Präsidenten geworden." Ihm selbst blieb das verwehrt, da die Verfassung vorschreibt, dass nur Menschen, die in den USA geboren wurden, Präsident werden dürfen. "Ich habe mir alle möglichen Tricks ausgedacht, wie ich das Hindernis überwinden kann."

Er gibt sich kaum Mühe, sein Handeln zu verteidigen

Er enthält sich in überraschendem Maß der moralischen Wertung. Jede Zeit verlangt ihre eigenen Antworten - und oft genug kann das heißen, eine andere Position einzunehmen und andere Dinge zu tun als in anderen Jahrzehnten. Für ihn ist das kein Widerspruch. Nicht die Maximen des Handelns haben sich für ihn geändert, sondern die Umstände.

So wirbt der "bayrische Franke", der sich früher eher an Habsburg als an Preußen orientierte und seine Dissertation in Harvard über den österreichischen Staatsmann Metternich schrieb, schon seit Jahren für den Wiederaufbau des Stadtschlosses der Hohenzollern in Berlin.

Er würzt seine Reden gerne mit Anekdoten, rät aber zugleich: "In der Zusammenarbeit zwischen Regierungen darf man nicht zulassen, dass die persönlichen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen." Staaten handeln nach ihren Interessen, nicht nach Sympathien. In der Ära des Ost-West-Konflikts gab er dem strategischen Gleichgewicht höhere Priorität als Demokratie und Menschenrechten. Im Englischen hat seine Doktorarbeit den provozierenden Untertitel "The Problems of Peace".

Kissinger gehörte lange bevor er 1969 Sicherheitsberater des Präsidenten Richard Nixon wurde - und 1973 zusätzlich das Amt des US-Außenministers übernahm - zu den Vordenkern eines atomaren Gleichgewichts des Schreckens. Seine Analyse "Nuclear Weapons and Foreign Policy" von 1957 hatte ihn zu einem gefragten Berater gemacht. Seit 2007, fünfzig Jahre später, wirbt er dagegen für "Global Zero": eine Politik, die zu einer Welt ohne Atomwaffen führt.

In seiner Weltsicht erzwingt es die Realpolitik sogar manchmal, zum gleichen Zeitpunkt Dinge tun, die auf Beobachter widersprüchlich wirken. Je nach Perspektive kann man im Sicherheitsberater und Außenminister Kissinger sowohl einen Konfliktverschärfer als auch einen Friedensvermittler sehen. Um die ideologische Ausbreitung des Einflussbereichs der Sowjetunion zu stoppen, stützte Kissinger Militärdiktaturen in Südamerika und Afrika, suchte aber parallel die Entspannung mit den Kommunisten in China. In Vietnam trieb er Anfang der 1970er Jahre geheime Friedensverhandlungen mit dem kommunistischen Norden voran. Im benachbarten Kambodscha intervenierten die USA mit Flächenbombardements.

Seine heftigsten Gegner sehen in ihm einen Kriegsverbrecher, der vor ein internationales Tribunal gehöre. 1973 soll Kissinger in Chile den Putsch des Generals Augusto Pinochet gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende sowie die Verfolgung linker Dissidenten abgesegnet haben und 1975 den Einmarsch Indonesiens in Ost-Timor. Berühmte Enthüllungsjournalisten haben anklagende Bücher verfasst, zum Beispiel William Shawcross 1980 "Schattenkrieger. Kissinger, Nixon und die Zerstörung Kambodschas"; Seymour Hersh 1983 "The Price of Power. Kissinger in Nixons White House"; Christopher Hitchens 2001 "Die Akte Kissinger". Rezensenten haben Hitchens freilich vorgehalten, er schreibe mit Schaum vor dem Mund und verbreite Halbwahrheiten. Als 2004 Telefonprotokolle aus Kissingers Amtszeit veröffentlicht wurden, stellte sich heraus, dass er vergeblich versucht hatte, Nixon von den Bombardements in Kambodscha abzuhalten.

Bewunderer ehren Henry als genialen Strategen und weitsichtigen Realpolitiker, der in vielen Situationen den Weltfrieden befördert habe. Mit geheimen Reisen bereitete er den Ausgleich mit China und Nixons spektakulären Besuch in Peking 1972 vor. Er verhandelte das erste Rüstungsbegrenzungsabkommen mit Moskau, den SALT-Vertrag. Kissinger gilt auch als Erfinder der "Shuttle-Diplomatie" bei den Friedensbemühungen im Nahen Osten. Er erreichte 1974 das Ende des Jom-Kippur-Krieges. Ägypten und Syrien hatten mit einem koordinierten Überraschungsgangriff an dem israelischen Feiertag versucht, den Sinai und die Golanhöhen zurückzuerobern, die sie im Sechs-Tage-Krieg 1967 verloren hatten. Für den Friedensvertrag in Vietnam erhielt Kissinger 1973 gemeinsam mit Le Duc Tho den Friedensnobelpreis.

Er selbst zeigt im Gespräch wenig Neigung zu moralischen Bewertungen. Er betrachtet, was geschehen ist und was sich daraus entwickelt hat, mit unaufgeregter Gelassenheit - als seien dies Lehrbeispiele für Außenpolitik: Beispiele aus dem ganz realen Leben, nicht Theorie aus den Denkstuben. Er macht kaum Anstalten, sein Handeln zu verteidigen. Das hat er nicht mehr nötig. Oder oft genug getan in den Jahren seit 1977, als der Demokrat Jimmy Carter Präsident wurde und Kissinger die Regierung verließ.

Henry nahm einen Lehrauftrag für internationale Diplomatie an, hielt hoch dotierte Vorträge, verdingte sich als Fernsehkommentator - und schrieb seine Memoiren. Die Einladungen ausländischer Gerichte, als Zeuge zu den Vorwürfen, die seine Gegner gegen ihn vorbrachten, auszusagen, ignorierte er beharrlich. Parallel gründete er seine eigene Beratungsfirma in New York: "Kissinger Associates Inc." Konzerne aus aller Welt gehören zu seinen Kunden. Sein Jahreseinkommen wurde auf mehrere Millionen Dollar geschätzt.

In der neuen Funktion spielten die persönlichen Beziehungen, die in der realen Außenpolitik keinen Einfluss auf sein Handeln nehmen sollten, durchaus eine Rolle. Manchen Gästen gab er Einblick in sein Privatleben und nahm sie, zum Beispiel, zu "Top Dog" mit: Schönheitswettbewerben seiner Hunde in New York.

Heute kommt er nur noch an wenigen Tagen in die Geschäftsräume im elften Stock an der vornehmen Park Avenue und nur für wenige Stunden. Seine Mitarbeiter schirmen ihn weitgehend ab von Medienanfragen. Mit 90 lassen die Energien ein wenig nach. Wenn er aber da ist, zeigt er sich bis ins Detail orientiert, ob in der Weltpolitik oder deutschen Fußballresultaten.

Nüchterne Realpolitik à la Kissinger erlebt unter Barack Obama eine Renaissance nach der gefühlsgeladenen Außenpolitik des Vorgängers. George W. Bush hatte die Konflikte mit Osama bin Laden und Al Qaida, Saddam Hussein im Irak und Ahmed Ahmadinedschad im Iran als persönliche Auseinandersetzungen inszeniert und sie emotional und moralisch zugespitzt. In seiner Rhetorik ging es um Gut und Böse, "die oder wir". Das war so ziemlich das Gegenmodell zu Kissingers kühl-analytischem Denken. Obama bewegt sich eher in Henrys Welt mit seiner Abneigung gegen neue Interventionen in der muslimischen Welt und dem kalten Abwägen, ob Eingreifen oder Nichtstun in Syrien das größere Risiko für die USA heraufbeschwört.

Technische Neuerungen wie das Internet weiß er zu schätzen. Ja, das Gerücht stimme, bestätigt er, dass er sich in früheren Jahrzehnten die Ergebnisse der Bundesliga von der Deutschen Botschaft habe durchgeben lassen - vor allem aber das Abschneiden seiner Fürther, auch als sie in der Regionalliga spielten. "Je nach dem Stand unserer Beziehungen bekam ich sie entweder am Wochenende oder erst am Dienstag", fügt er schmunzelnd hinzu. Heutzutage kann er die Resultate online nachsehen.

"Persönliche Kontakte spielten früher eine größere Rolle", sagt er. Heute kann man eine unvorstellbare Menge von Informationen im Internet finden. Das führe zu einer "anderen Mentalität. Ich sage nicht, dass die eine Mentalität besser als die andere sei. Es führt aber zu einem kulturellen Unterschied." Die Liebe zur Analyse, die Zurückhaltung bei der Bewertung ist bis heute geblieben. Seine Generation habe "ein heute kaum vorstellbares Maß an Leiden" erlebt. Andererseits sei sie mit Büchern aufgewachsen. Es gab keine sozialen Netzwerke.

Um Europa ist ihm nicht bange. Er glaubt nicht an die These vom Abstieg Europas und Aufstieg Asiens sowie die geostrategische Wende der USA vom Atlantik zum Pazifik. Es stimme gewiss, dass Asien seit den 1970er Jahren an Gewicht gewinne. Das "verringert aber nicht die unersetzliche Bedeutung Europas für Amerika".

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