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Die gesperrte Tauentzienstraße in Berlin nach dem illegalen Autorennen im Februar 2016.

© Britta Pedersen / dpa

BGH hebt Mordurteil auf: Wir sind alle Raser - öfter, als wir denken

Im Verfahren um die Berliner Todesfahrt auf dem Kudamm drohte der Rechtsstaat aus der Kurve zu fliegen. Gut, dass noch gebremst wurde. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Deutliche Macht- und Schlussworte staatlicher Gewaltenträger sind erwünscht in diesen ungeordneten Zeiten. Deshalb war es wenig erstaunlich, dass das bundesweit erste Mordurteil für Autoraser in der Öffentlichkeit zustimmend aufgenommen wurde; endlich ein Zeichen, ein Stoppsignal gegen diesen Wahnsinn, das einzige womöglich, das die erhitzten Jungmänner in ihren PS-Schleudern noch bremsen kann! Nun kommt es anders. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil aufgehoben. Bei der erneuten Verhandlung wird der Mordvorwurf wohl keine große Rolle mehr spielen.

Es wird möglicherweise etwas dauern, bis sich die Erkenntnis einstellt, dass der Rechtsstaat in diesem Verfahren fast aus der Kurve geflogen wäre. Wenn Richter urteilen, sollten sie bedenken, wohin ihr Urteil führen könnte. Eine glatte Bestätigung des Mordvorwurfs hätte zur Folge gehabt, dass in vielen der das Leben anderer gefährdenden Beschleunigungsfahrten ein Mordversuch zu sehen wäre. Statt dafür Knöllchen zu verteilen, müsste der Staat in ähnlich massenhafter Weise lange oder sogar lebenslange Strafen verhängen, ganz zu schweigen davon, wie viele schwerste Delikte ungesühnt geblieben wären.

Das Hollywood-Kino spielt es vor, die Autoindustrie wirbt damit

Natürlich war die Berliner Tragödie ein außergewöhnliches Szenario, doch letztlich nur mit Blick auf den Schauplatz im Herzen der Hauptstadt; die wesentlichen Unfall-Eckdaten, von den PS-Neurosen der Täter über ihre Rücksichtslosigkeit bis hin zu den Spitzengeschwindigkeiten jenseits des Erlaubten sind traurigerweise häufiger zu finden. Das Hollywood-Kino spielt es vor, die Autoindustrie wirbt damit, die Politik lässt es laufen: Speed ist Ausdruck von Freiheit.

Derlei Gegebenheiten gehören mittelbar ebenfalls zu den Tatumständen, weshalb die Korrektur aus Karlsruhe auch aus einem anderen Grund nötig erschien. Eine Strafe darf das Maß an Schuld nicht übersteigen. Es steht außer Frage, dass keiner der beiden die Absicht hatte, jemanden zu töten. Es ging damit nur um die psychologisch wie juristisch haarfeine Grenze, an der bewusste grobe Fahrlässigkeit endet und denkend-schweigend der Tod anderer in Kauf genommen wird. Bei allem verständlichen Strafbedürfnis behalten die höchsten Richter hier eine lebensnahe Perspektive bei. Denn das größte Unheil besteht gerade darin, dass sich viele Fahrer trotz offenkundiger Unreife so sicher und selbstvollkommen fühlen, dass ihnen und anderen schon nichts dabei geschehen wird.

Viele halten sich für überlegene Wagenlenker

Das schließt nicht aus, im Einzelfall doch auf eine vorsätzliche Tat zu erkennen; aber dazu müsste es mehr Anhaltspunkte geben, als die Berliner Richter sie bisher finden konnten. Wer dies als falsche Milde kritisiert, mag bei der nächsten Landstraßentour oder in innerstädtischer Eile dieselbe Strenge gegen sich selbst wenden, wenn die Tachonadel über das Tempolimit steigt. Denn hier beginnt der Wahnsinn, der am Kudamm so schaurig ins Finale ging. Viele, allzu viele teilen sogar noch im vorgerückten Alter das Schicksal der Verurteilten, sich selbst für überlegene Wagenlenker zu halten, die andere Verkehrsteilnehmer dank ihrer Künste auf die Plätze verweisen. Schließlich lag das Berliner Urteil auch daneben, indem es den zweiten Fahrer voll in die Haftung desjenigen einbezog, der mit dem Opfer kollidierte. Es war ein grauenvoller Unfall, auch eine schwere Straftat, die hart gesühnt werden muss – aber wohl kaum ein gemeinschaftlicher Mord. Die beiden hatten sich über das Rasen verständigt, nicht über das Töten.

Raser können schnell zu Verbrechern werden. Bundesweit zeigen Anklagen und Urteile, dass die Täter nicht mit Nachsicht rechnen dürfen. Das Parlament hat mit einem schärferen Gesetz nachgeholfen, das Rennfahrten auf öffentlichem Straßenland bestraft. Trotzdem kann die Justiz nicht nachholen, was Politik und Gesellschaft über Jahre versäumt haben. Straßenverkehr ist ein Hochrisikogebiet, das, siehe Diesel, strikteste Regulierung verträgt. Wer jedoch die Erlaubnis zum Autobahn-Vollgas weiterhin wie ein nationales Kulturgut verteidigt, kann über Raser schlecht klagen.

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