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Politik: Bilder brauchen Worte

Von Hellmuth Karasek

Die Fernsehbilder der letzten Wochen, Tage, Stunden schreien zum Himmel, eine sich überschlagende Bilderfolge der Apokalypse. Wer sie vor Augen hat, der möchte glauben und fürchten, dass das Medium der pausenlos im Wettlauf um die globale Uhr gesendeten Bilder das einzige journalistische Medium ist, das die aktuelle Politik prägt. Und damit die Zeitgeschichte bestimmt. Und wo bleiben wir Zeitungen? Wir Printmedien?

Es sind Bilder, in denen Skandale auffliegen, in denen sich die Propaganda der Rache und die Rache der Propaganda bedient. Hinrichtungen auf Video, zu SchockZwecken millionenfach verbreitet. Politiker, die nach und nach zugeben, was sie jetzt öffentlich zu sehen bekommen und angeblich schon lange kennen. Verdrängte, verheimlichte Bilder, die zurückschlagen auf die öffentliche Meinung und Politiker ohne Ansehen der politischen Couleur zu Bekenntnissen, Entschuldigungen, Rechtfertigungen drängen.

Es ist wahr, dass das Fernsehen wieder einmal die Zeitgeschichte schreibt: Ob wir Zeugen werden, wie Putins Autorität kurz nach dem grandiosen Wahlsieg durch das Attentat auf seinen tschetschenischen Satrapen weggesprengt wird. Oder ob immer neue Bilder dem gewünschten Eindruck der demokratischen Befreier des Irak Hohn sprechen.

Die Fernsehbilder bestimmen die Politik: Politiker können ihnen trotzen, sich gegen sie stemmen, sich entschuldigen oder Umkehr versprechen – reagieren müssen sie. Und wir erinnern uns: Das war schon in Vietnam so, wo die Übertragung der Tet-Offensive im US-Fernsehen die Amerikaner endgültig vom Krieg abbrachte. Oder die DDR, die durch Bilder von der Massenflucht ihrer Bürger über Ungarn, von den Botschaftsbesetzern in Prag, die anschließend von Kameras begleitet durch die DDR in den Westen ausreisten, und von den Leipziger Montagsdemonstrationen ihren Knockout erhielt: das Ende des real existierenden Sozialismus.

Und wir, die Chronisten des Wortes, wir altmodischen Zeitungsjournalisten, die wir sozusagen auf Nostalgie-Dampfloks gemächlich an der Landschaft der Fernsehschüsseln vorbeifahren – werden wir anachronistisch, ja überflüssig?

Das Gegenteil ist der Fall: Gerade wo wir nahezu ungeschützt dem mächtigen Aufprall der Bilder ausgesetzt sind, brauchen wir die Worte, die die Bilder zu deuten suchen. Um sich ein wirkliches Bild zu machen, genügt der Augenschein gerade nicht. Bilder lügen – oft auch mit ihrer Wahrheit.

Das klingt paradox und ist doch schlicht wahr. Bilder entstehen, wo Worte Wirklichkeit angerichtet haben. Denn die Worte waren die Programme – politische, terroristische, humanitäre, zynische Programme –, aus denen die Bilder entstanden sind. Deshalb lassen sie sich auch nur erklären, wenn man sie kommentiert, erläutert, in Zusammenhänge stellt, die mit gutem Recht Kontext heißen. Zeitungen, selbst wenn sie Meinungen vortragen, bewegen einen Diskurs. Denn anders als Bilder, die erschlagen, gibt es zu jeder freien Meinung eine freie Gegenmeinung.

Der Kanzler hat die Zeitungsjournalisten jüngst – ausgerechnet im Plauderfernsehen – bedauert, weil sie täglich eine ganze Zeitung voll schreiben müssten. Er sollte sich bedauern, falls es anders wäre, auch wenn er das manchmal, bei den seltenen Bildern in Siegerpose, anders sieht. Ohne Worte sagen Bilder nicht die ganze Wahrheit.

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