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Einmal mehr explodieren Wut und Frustration vieler Schwarzer über unverhältnismäßige Polizeieinsätze.

© Kerem Yucel/AFP

„Bin ich der Nächste?“: US-Polizei sieht in Tod von Schwarzem einen „tragischen Unfall“

Wieder eskaliert ein Polizeieinsatz, diesmal in Minnesota. Wieder stirbt ein Schwarzer. An Unfälle glauben dabei immer weniger US-Amerikaner.

Als ob der Fall nicht schon genug aufgeladen gewesen wäre: Während in Minneapolis der Polizist Derek Chauvin vor Gericht steht, der vor elf Monaten den Afroamerikaner George Floyd getötet haben soll, erschießt keine zehn Kilometer entfernt eine Polizistin am Sonntag den 20-jährigen Daunte Wright – angeblich aus Versehen. Einmal mehr explodieren Wut und Frustration vieler Schwarzer über unverhältnismäßige und brutale Polizeieinsätze in gewalttätigen Protesten.

Was seitdem passiert, gleicht dem, was Minneapolis und viele amerikanische Städte im vergangenen Jahr erlebt haben. Noch am Sonntag ziehen Hunderte Demonstranten zu einem Polizeirevier der Kleinstadt Brooklyn Center, einem Vorort von Minneapolis im Bundesstaat Minnesota. Viele demonstrieren friedlich vor dem frisch hochgezogenen Zaun, sie fordern Gerechtigkeit, halten Schilder hoch mit den Worten: „Mörder-Polizisten“ und „Bin ich der Nächste?“.

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Aber wie 2020 nach Floyds Tod werden die Demonstrationen zum Abend hin aggressiver. Steine werden geworfen, die Polizei setzt Tränengas und Blendgranaten ein. Und während die Polizisten damit beschäftigt sind, ihre Stellung zu halten und die Station zu bewachen, nutzen manche die Lage, um Geschäfte zu plündern und teilweise auch in Brand zu setzen. Eine nächtliche Ausgangssperre ab 19 Uhr, mit der die Behörden die Lage im Großraum Minneapolis in den Griff kriegen wollen, wird ignoriert.

Die Nationalgarde, die derzeit wegen erwarteter Unruhen rund um den Chauvin-Prozess in der Region bereitsteht, soll die Polizei verstärken. Montagnacht werden 40 Personen verhaftet und mehrere Polizisten verletzt. Auch in anderen Städten, darunter Portland/Oregon und Los Angeles/Kalifornien, wird protestiert.

Elektroschocker mit Pistole verwechselt

Anders als bei Floyd, dem der Polizist Chauvin rund neun Minuten lang mit seinem Knie die Luft abpresste, soll es sich beim Tod von Wright um einen „tragischen Unfall“ handeln. Doch das Vertrauen in Polizeiangaben ist so gering, dass viele Demonstranten diese Version bezweifeln. Die lautet folgendermaßen: Beamte stoppten Wright am Sonntag – weil sein Nummernschild abgelaufen war und weil eine Art Duftbäumchen an seinem Rückspiegel hing, was in Minnesota untersagt ist.

Bei der Kontrolle hätten die Beamten festgestellt, dass gegen ihn ein Haftbefehl vorlag. Als die Polizisten ihn festnehmen wollten, wollte er fliehen. Die Beamtin Kim Potter habe daraufhin auf ihn geschossen. Dabei habe die 48-Jährige, die seit 26 Jahren Polizistin war, aber statt zu einer Elektroschockpistole, einem sogenannten Taser, zu ihrer Dienstwaffe gegriffen.

Den Fehler will sie erst bemerkt haben, als es bereits zu spät war. Wright fuhr noch ein paar hundert Meter weiter, dann stieß sein Fahrzeug mit einem anderen zusammen, er starb daraufhin, eine Mitfahrerin wurde verletzt.

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Die Behörden haben Aufnahmen einer Bodycam veröffentlicht, auf denen die versuchte Festnahme festgehalten ist. Die Polizistin ruft demnach mehrfach „Ich werde dich tasern“, benutzt dann aber ihre Schusswaffe. Das Video soll die Version eines „tragischen Unfalls“ belegen.

Doch von „tragischen Unfällen“ wollen die Demonstranten nichts mehr hören. Sie werfen der Polizei Rassismus vor, da immer wieder Nicht-Weiße ihr Leben verlieren, wenn vermeintliche Routineeinsätze wie Verkehrskontrollen eskalieren. Da Polizisten in der Vergangenheit oft ungestraft davonkamen, glaubten sie offenbar, damit davonzukommen.

Benjamin Crump, der Anwalt von Wrights Familie, der auch die Floyd-Angehörigen vertritt, sagt über den aktuellen Fall: „Dieses Ausmaß tödlicher Gewalt war komplett unnötig und unmenschlich.“ Der schwarze Bürgermeister von Brooklyn Center, Mike Elliott, erklärt am Dienstag im Sender NBC: „Wenn man in diesem Land schwarz ist und von der Polizei angehalten wird, ist man in viel größerer Gefahr, getötet zu werden.“ Dagegen würden die Menschen aufstehen und fragen, wann das endlich aufhöre. Die Tragödie hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt geschehen können, sagt Crump.

Der Präsident ruft zur Ruhe auf

Zusätzlich angefeuert wird die Wut derzeit durch ein weiteres Video. Darauf ist zu sehen, wie Caron Nazario, ein schwarzer Leutnant der US-Armee, bei einer Verkehrskontrolle in Windsor im Bundesstaat Virginia von zwei Polizisten mit vorgehaltener Waffe festgehalten und mit Pfefferspray besprüht wird. Nazario hat Anfang April Klage eingereicht. Er wirft den Polizisten unter anderem vor, ihm gedroht zu haben, seine Karriere zu beenden, wenn er ihr Verhalten öffentlich mache. Virginias demokratischer Gouverneur Ralph Northam will den Vorfall „unabhängig“ untersuchen lassen.

Angesichts der angespannten Stimmung in Minneapolis wachsen die Sorgen, dass es nach einem Urteil im Fall Chauvin wieder zu schweren Ausschreitungen kommen könnte. Chauvin ist wegen „Mordes zweiten und dritten Grades“ angeklagt, eine Jury wird schon bald darüber entscheiden, welche Verantwortung er für Floyds Tod trägt.

In der kommenden Woche werden bereits die Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung erwartet. Die Verteidigung argumentiert, Floyds Tod gehe nicht auf Gewalteinwirkung, sondern auf dessen Herzrhythmusstörungen und Rückstände von Drogen in seinem Blut zurück. Der Lungenexperte Martin Tobin hat diese Theorie allerdings in der vergangenen Woche während seiner Anhörung zurückgewiesen: Auch eine „gesunde Person wäre infolge der Umstände, denen Herr Floyd ausgesetzt war, gestorben“.

Die Wut vieler Schwarzer in Amerika, dass sich solche Tragödien immer wieder wiederholen, ist groß. Sie wollen, dass sich endlich etwas ändert, etwa, indem die Polizeiausbildung reformiert wird. Doch wie schnell sich die Lage verbessern kann, ist unklar. Anders als im Mai 2020, als Floyd starb, regiert nun zwar ein Mann das Land, der versprochen hat, gegen Rassismus und Polizeigewalt vorzugehen.

Aber auch Joe Biden bleibt am Montag erst einmal nicht viel mehr, als zur Ruhe aufzurufen. Friedlicher Protest sei verständlich. Für Gewalt gebe es „absolut keine Rechtfertigung“.

Erste Konsequenzen nach dem tödlichen Schuss gab es am Dienstag in Brooklyn Center: Die verantwortliche Polizistin Potter und der örtliche Polizeichef Tim Gannon reichten ihre Kündigungen ein. Damit beginne hoffentlich eine neue Phase, sagte Bürgermeister Elliott.

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