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Morales

© dpa

Bolivien: Test für den neuen Sozialismus

Bolivien stimmt am Sonntag über eine neue Verfassung ab. Die rund vier Millionen Bürger können damit über die politische Zukunft von Präsident Morales entscheiden. Doch die Wahl ist auch ein Stimmungstest ist für die gesamte linke Bewegung Lateinamerikas.

Von Michael Schmidt

Berlin - Es geht, in den Worten von Präsident Evo Morales, um nicht mehr und nicht weniger als die Neugründung Boliviens. Nach 500 Jahren der Unterdrückung soll der Andenstaat nach der Vorstellung des ersten indigenen Staatsoberhauptes des Landes einen großen Schritt in eine bessere Zukunft tun. Morales’ Mittel der Wahl war die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Nach zweijährigen, zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen über das Für und Wider sollen nun am Sonntag rund vier Millionen Bürger Boliviens über die Annahme der neuen Verfassung entscheiden. Eine Abstimmung, die das weitere politische Schicksal des linksgerichteten Präsidenten bestimmen wird – und somit Stimmungstest ist für die gesamte linke Bewegung Lateinamerikas. Eine Abstimmung aber auch, die den Machtkampf in dem politisch, wirtschaftlich, sozial und ethisch zerrissenen Land wohl nicht beenden wird. Der jahrhundertealte Streit um Geld, Einfluss und Ideologie wird durch das geduldige Verfassungspapier kaum zur Ruhe zu bringen sein.

Bolivien ist tief gespalten. Hier die weiße, wohlhabende Oberschicht, dort die überwiegend in Armut lebende Indiomehrheit. Hier das fruchtbare und rohstoffreiche östliche Tiefland, dort das karge westliche Hochland. Für den Fall, dass Morales sein Modell eines ethnisch orientierten Sozialismus durchsetzen sollte, das die bisher ausgegrenzten Indios stärker am – ohnehin sehr bescheidenen – nationalen Wohlstand beteiligen will, haben seine Gegner schon in der Vergangenheit wiederholt mit einer Abspaltung ihrer Provinzen gedroht.

Mehr als 300 internationale Wahlbeobachter werden den Ablauf des Referendums beobachten. Bei Annahme der Verfassung wird Bolivien ein interkultureller Vielvölkerstaat mit 37 offiziellen Sprachen, der Glaubensfreiheit garantiert. Den indianischen bäuerlichen Völkern und Nationen wird der Schutz ihrer kulturellen Identität, ihrer sozialen wie politischen Strukturen und Institutionen zugesichert. Zudem garantiert der Staat das Recht auf Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit, Rente, Trinkwasser und angemessene Entlohnung.

Die Opposition kritisiert, dass der Entwurf nicht das Ergebnis eines transparenten und demokratischen Prozesses sei. Kaum ein Bolivianer kenne die 411 Paragrafen, von denen zudem keiner mit der vereinbarten Zwei-Drittel-Mehrheit von der verfassunggebenden Versammlung beschlossen worden sei. Die katholische Kirche und ein Zusammenschluss protestantischer Kirchen äußerten die Befürchtung, die neue Verfassung könne Abtreibungen legalisieren und den Weg für Homo-Ehen frei machen – schließlich werde in dem Text nicht die Familie als Säule der bolivianischen Gesellschaft festgeschrieben. Morales erinnerte die Kirchen daran, dass sie an der Ausformulierung der Verfassung beteiligt waren und der Text ihre Befürchtungen nicht stütze.

Immerhin gelang es der Opposition, rund 100 Änderungsvorschläge in dem Entwurf durchzusetzen. Nach der Reform wäre zum Beispiel nur noch eine einmalige direkte Wiederwahl des Präsidenten erlaubt – mit dem Verzicht auf eine weitere Amtszeit nach 2014 erfüllte Morales eine zentrale Forderung der Opposition. Nach dem Kompromiss dürfte er nun bei den für Dezember geplanten vorgezogenen Neuwahlen zum letzten Mal antreten.

Laut Umfragen kann die Regierung mit einer Zustimmung von rund 65 Prozent rechnen. 16 Prozent der Wahlberechtigten sind gegen die Verfassungsreform, 19 Prozent sind unentschlossen. Sie hofft Morales zu gewinnen, um den Sprung über die 80-Prozent-Marke und damit ein „Weltrekord“-Ergebnis zu schaffen: „Mein großer Wunsch ist, dass die Bevölkerung die neue Verfassung mit 60, 70 oder 80 Prozent bestätigt.“

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