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Laudatio im Dom: Frank-Walter Steinmeier würdigt das Menschenrechtszentrum Cottbus.

© dpa

Brandenburger Freiheitspreis: Bundesaußenminister würdigt das Menschenrechtszentrum Cottbus

"Das Menschenrechtszentrum Cottbus verkörpert den Wert der Freiheit durch die Erfahrung der Unfreiheit. Wir zeichnen die ehemaligen Häftlinge mit dem Freiheitspreis aus – nicht nur aus Respekt vor den Erfahrungen, die sie und andere Opfer von DDR-Unrecht machen mussten, sondern wegen der Lehren, die sie daraus gezogen haben." / Von Frank-Walter Steinmeier

Im Hof vom Zuchthaus Cottbus steht ein Baum. Verborgen hinter mehreren Schichten aus Mauern und Stacheldraht, eingepfercht in das trostlose Karree der Gefängnisgebäude mit ihren viel zu kleinen Gitterfenstern – da steht dieser Baum. Groß und grün und ein wenig melancholisch sieht er aus, eine Trauerweide nämlich.

„Klingt schön“, mögen Sie jetzt denken, „bei mir im Hof steht auch ein Baum. Aber was ist denn nun mit dem Menschenrechtszentrum?“

Ich komme gleich dazu. Aber eines müssen Sie noch über den Baum wissen: Früher, als das Zuchthaus tatsächlich noch ein Zuchthaus war, gab es dort keinen Baum. Nirgendwo. Nichts dergleichen. Kein Grün.

Einmal, in den 70er Jahren, da fand ein Häftling während des Freigangs im Hof eine kleine Blume, die in einer Ritze der Gefängnismauer wuchs. Der Häftling, ein Pastor übrigens, pflückte sie, nahm sie mit in seine Zelle – 30 Insassen waren in eine Zelle gepfercht – und versteckte das kostbare Grün unter seiner Matratze. Doch wenig später wurde das Mauerblümchen entdeckt, von einem der Gefängniswärter, die offiziell „Erzieher“ hießen, und allein für den Besitz dieses Blümchens wurde der Häftling mehrere Tage lang in Kellerhaft gesteckt. „Tigerkäfig“ nannten sie die winzigen, rundum vergitterten Einzelzellen im Keller. Eingesperrt wie ein Tier wurde dieser Pastor, weil er ein bisschen Hoffnungsgrün gepflückt hatte.

Häftlinge kaufen den Ort ihrer Pein - ein beispielloser Vorgang!

Jahre später, irgendwann in der Nachwendezeit, begann diese Trauerweide wild zu wachsen – wer weiß schon, warum. Vermutlich war es während der brachen Jahre, als das Gelände zunehmend verfiel, jedenfalls bevor eine mutige Gruppe von ehemaligen politischen Häftlingen den unerhörten Entschluss fasste, ihr ehemaliges Gefängnis, den Ort ihrer Pein, zu erwerben, herzurichten und umzuwandeln in einen Ort der Erinnerung, einen Ort der Versöhnung und einen Ort der Menschenrechte! Was für ein beispielloser Vorgang!

„Der Brandenburger Freiheitspreis wird an herausragende Personen oder Institutionen vergeben, die engagiert und vorbildlich zur Verwirklichung des Freiheitsgedankens beigetragen haben.“ So steht es in der offiziellen Auslobung des Preises, der zum ersten Mal vergeben wird. Ein Preis für die Freiheit: welch großes Wort!

Vielleicht zu groß, zu pompös? Sind unsere akuten Probleme nicht viel zu dringlich? Kriege und Konflikte rings um Europa. Fliehkräfte, die an der Europäischen Union selbst zerren. Und Spannungen, ja Spaltungen auch innerhalb unserer Gesellschaft in Deutschland. Wer hat da Nerv für große Worte? Es ist eine Zeit, in der Menschen konkrete Lösungen sehen und nicht Reden über die Freiheit hören wollen, erst recht nicht von Politikern wie mir.

Deshalb habe ich mich gefragt: Wie kann ich heute Abend überhaupt anfangen, über die Freiheit zu sprechen? Wie kann ich unserem wunderbaren Preisträger gerecht werden?

Als ich diesen Baum sah und seine Geschichte hörte, war ich sicher: Nichts macht den Wert der Freiheit so deutlich wie ihre Abwesenheit!

Ich schlage vor: Das nächste Mal, wenn Sie achtlos am Baum in Ihrem eigenen Hof vorbeigehen, dann stellen Sie sich vor, er wäre nicht da und nirgendwo in Ihrem Leben gäbe es Grün.

Was lebensnotwendig ist, ist deshalb noch lange nicht selbstverständlich.

Ein „deutsches Selbstbewusstsein“, das ich mir wünsche

Daran erinnert uns dieser Preisträger: Das Menschenrechtszentrum Cottbus verkörpert den Wert der Freiheit durch die Erfahrung der Unfreiheit. Wir zeichnen die ehemaligen Häftlinge mit dem Freiheitspreis aus – nicht nur aus Respekt vor den Erfahrungen, die sie und andere Opfer von DDR-Unrecht machen mussten, sondern wegen der Lehren, die sie daraus gezogen haben. In der Not der Unfreiheit haben sie erkannt, dass die Freiheit lebensnotwendig ist – und zwar für alle Menschen. Freiheit für wenige, Unfreiheit für viele – damit darf niemand sich abfinden. Verwirklicht ist die Freiheit nur, wenn sie für alle verwirklicht ist. Freiheit ist Menschenrecht – diese selbst durchlebte Erkenntnis treibt die Arbeit der Cottbuser Engagierten an, im Hier und Jetzt, im In- und Ausland.

Als Außenminister habe ich mich gefragt: Steht ein solches Selbstverständnis nicht geradezu beispielhaft für Deutschland? Hat unser Land nicht auch den Wert der Freiheit erst durch die vielfache Erfahrung der Unfreiheit erlernt?

In Deutschland, im Auf und Ab unserer Geschichte, haben Deutsche anderen Deutschen immer wieder Unfreiheit auferlegt, und hat Deutschland Unfreiheit über andere Völker gebracht. Ich glaube: Gerade ein Land wie unseres sollte den Wert der Freiheit in besonderer Weise verinnerlicht haben – und heute umso bewusster für ihn eintreten! Das ist jedenfalls ein „deutsches Selbstbewusstsein“, das ich mir wünsche. Nicht ein tumbes, geschichtsvergessenes, auf Feindbilder gebautes sogenanntes „neues deutsches Selbstbewusstsein“, irgendwo zwischen „Wir sind wieder wer“ und „Deutschland den Deutschen“, für das manche ausgerechnet am Tag der Deutschen Einheit in Dresden gepfiffen, getrötet und gebrüllt haben. Sondern ein Selbst-Bewusstsein im eigentlichen Sinn: nämlich im Bewusstsein unserer besonderen Geschichte.

Was Freiheit und Menschenrechte anbetrifft, ist Deutschland sicherlich nicht das Land, um andere Länder zu belehren. Doch genauso wenig erlaubt es unsere Geschichte, uns herauszuhalten. Sondern unsere Erfahrungen der Unfreiheit mitzuteilen und unsere spät gewonnene Freiheit für andere einzusetzen, das ist heute unsere Aufgabe. Dass ein solches Selbstverständnis möglich ist, dafür gibt uns das Menschenrechtszentrum Cottbus Hoffnung und Ansporn.

Wem all das zu abstrakt klingt, dem rate ich: Fahren Sie hin zum ehemaligen Zuchthaus! Gehen Sie zu jener Trauerweide, die es früher nicht gab, setzen Sie sich in ihren Schatten und lassen Sie den Gefängnishof auf sich wirken. „O, welche Lust! in freier Luft den Atem leicht zu heben,“ so singt der Gefangenenchor in Beethovens Fidelio, „nur hier, nur hier ist Leben – der Kerker eine Gruft!“

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