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Brasilien: Nationaler Pakt gegen Protest

Brasiliens Präsidentin Rousseff will Öleinnahmen in die Bildung stecken. Für solche Reformen braucht sie aber Unterstützung von den Gouverneuren.

Ein Land sucht nach Erklärungen: Was haben die Massenproteste in Brasilien zu bedeuten? Zwar benutzen bisher nur wenige den Begriff historisch. Doch es ist klar: Die zwei Millionen Menschen, die nach Zählung der Konföderation Brasilianischer Gemeinden am Donnerstag in 438 Städten auf die Straßen strömten, bedeuten eine Zäsur. Präsidentin Dilma Rousseff entschloss sich am Freitag schließlich auch zu einer landesweit übertragenen zehnminütigen Fernsehansprache. Sie sagte, dass sie die demokratische Stimme der Straße vernommen habe, und kündigte einen „großen Pakt“ zur Verbesserung der staatlichen Infrastruktur an. „Die Stimme der Straße muss gehört und respektiert werden und kann nicht verwechselt werden mit dem Krach und der Grausamkeit einiger Rabauken“, sagte Rousseff. Sie reagiert damit auf die Hauptforderung der Demonstranten nach besseren Schulen, Krankenhäusern, Transportnetzen und mehr öffentlicher Sicherheit. Sie werde nicht zulassen, dass die Ausgaben für die Fußball-Weltmeisterschaft auf Kosten der Gesundheit oder der Bildung gingen.

Dilma versprach weiter, sich mit den Gouverneuren der Bundesstaaten und den Bürgermeistern der großen Städte zusammenzusetzen. Ein „Nationaler Plan“ solle entworfen werden, der 100 Prozent der Einnahmen aus den staatlichen Erdölverkäufen ins Bildungssystem lenke. Dilma lud zudem „tausende ausländische Ärzte“ ein, das brasilianische Gesundheitssystem zu unterstützen. Auch die Korruption will sie effizienter bekämpfen.

Die Gouverneure, die im föderalen Brasilien in der Praxis mehr Macht haben als die Präsidentin, haben auf das Angebot Rousseffs bisher noch nicht geantwortet. Mit ähnlichen Vorhaben war sie aber bereits im Kongress auf Widerstand gestoßen. Ebenso wenige Reaktionen erhielt sie auf ihren Vorschlag zu einem runden Tisch mit den Repräsentanten der Demonstranten. Insbesondere in Rio de Janeiro, wo am Donnerstag mit mindestens 300 000 Teilnehmern erneut der größte Marsch stattfand, hat der Protest keine Sprecher. Zwar gibt es hier das „Comitê Popular da Copa e Olimpíadas“ (Volkskomitee zu Fußball-WM und Olympia), in dem so gut wie alle sozialen Bewegungen der Stadt vereint sind. Doch es beansprucht keine Führungsrolle.

In São Paulo existiert hingegen die Bewegung Freie Fahrt (MPL), mit deren Aufrufen gegen die Fahrpreiserhöhung für Bus und Metro die Proteste vor zwei Wochen begonnen hatten. Die MPL hatte zunächst alle weiteren Demonstrationen in der Stadt abgesagt. Hauptgrund waren die Prügeleien zwischen sogenannten Nationalisten und Mitgliedern linker Parteien, die mit ihren Symbolen auf dem Marsch am Donnerstag aufgetaucht waren. Die Mehrheit der Demonstranten lehnt politische Parteien strikt ab, weil die meisten sie für korrupt halten. Man demonstriert für ein besseres Brasilien – daher der Begriff Nationalisten. Die Wut bekamen insbesondere die Mitglieder der Arbeiterpartei PT zu spüren, der auch Präsidentin Rousseff angehört. Später nahm die MPL den Demonstrationsstopp wieder zurück.

Die konservativen Medien berichten vor allem über die Randale

Die konservativen Medien Brasiliens versuchen nun eine Spaltung der Bewegung herbeizureden. Ohnehin zeichnen sie ein schiefes Bild. Während etwa in der internationalen Presse häufig die beeindruckende Luftaufnahme von 300 000 Menschen auf Rios Avenida Vargas gezeigt wurde, machte Rios dominierende Zeitung „O Globo“ mit einem halbseitigen Bild der Randale auf. Dazu die Überschrift: „Außer Kontrolle“.

Ebenso wenig scheinen viele Regionalpolitiker bisher verstanden zu haben, dass sie es mit einer Massenbewegung zu tun haben. Der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, sowie der Bürgermeister der Stadt, Eduardo Paes, hoben in ersten Reaktionen vor allem den Vandalismus in Rios Zentrum hervor. Man werde keine Gewalttakte mehr dulden, kündigten beide an. Am Freitagabend versuchten dann rund 1000 Menschen im Reichenviertel Ipanema/Leblon zum Haus von Cabral zu ziehen. Sein Sicherheitsminister José Beltrame denkt laut darüber nach, die Armee bei künftigen Demonstrationen einzusetzen. Tatsächlich aber ging die Gewalt am Donnerstag zunächst von der Polizei aus, die Tränengas und Lärmbomben in die Menge schoss. Auf den Straßen standen schlecht ausgebildete Militärpolizisten sowie sogenannte Schocktruppen und die paramilitärische Spezialeinheit Bope, die insbesondere unter Favelabewohnern gefürchtet ist. Sie trat mit Kriegswaffen auf.

Die Ereignisse in Rio und anderswo dominieren nun die Gespräche in den Bars, bei Abendessen und Partys. Man fragt sich, wie eine Bewegung ihre Ziele durchsetzen soll, die den formal-politischen Prozess und seine Repräsentanten radikal ablehnt. Für Samstagnachmittag waren weitere Demonstrationen angekündigt. Parallel spielt Brasilien gegen Italien beim Confed Cup. „Wir brauchen keinen Fußball“, heißt es auf der einladenden Facebook-Seite von Anonymus Brasil. Ihr folgen mittlerweile fast eine Million Menschen.

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