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Politik: Braune Töne

Wer ist das beste Orchester der Welt: die Berliner oder die Wiener Philharmoniker? Ihre Politisierung in der NS-Zeit wirkt bis heute nach

Wer den Berliner Philharmonikern den „deutschen Klang“ abspricht, kann sich einer hohen Aufmerksamkeit gewiss sein. Als der Journalist Axel Brüggemann vor einiger Zeit geltend macht, das Orchester habe unter Simon Rattles Stabführung seinen „seelensuchenden, romantischen Ton“ verloren, während andere Ensembles inzwischen sehr viel besser „in Schwarz-Rot-Gold“ musizierten, rumort es kräftig im Gebälk des deutschsprachigen Feuilletons. Bereitwillig schießen sich Rattle-Befürworter und -Gegner auf die Polemik ein. Unangetastet bleibt jedoch der „deutsche Klang“ als Attribut: In Deutschland gilt er unter Traditionalisten unangefochten als Maßstab für gutes Musizieren.

Anders bei den Wiener Philharmonikern: Ihnen soll weniger ein „österreichischer“ als vielmehr ein „Wiener Klangstil“ zu eigen sein. Gleichsam rituell heraufbeschworen wird dieser an Neujahr – mit Johann Strauß. Indem sie, entgegen internationalen Gepflogenheiten, bisweilen an älteren Instrumententypen festhielten, erzeugten die Wiener Philharmoniker „jenen Orchesterklang, der in wesentlichen Elementen dem Klang entspricht, den die großen Komponisten der Wiener Klassik, der Wiener Romantik und der Wiener Schule im Ohr hatten, als sie ihre Werke schufen“, vermeldet dazu die orchestereigene Website.

„Deutscher Klang“ und „Wiener Klangstil“ gelten demnach als musikästhetische Qualitätsmerkmale. Deren Etablierung allerdings ist einem spannungsvollen Politisierungsprozess der beiden Orchester geschuldet, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt erlangt.

Die Berliner Philharmoniker formieren sich 1882 im prosperierenden jungen Kaiserreich zu einem unabhängigen Orchesterunternehmen. Im Windschatten des Flottenbauprogramms und der unter anderem auf die Beherrschung der Weltmärkte ausgerichteten „Weltpolitik“ avancieren sie rasch zum musikalischen Exporthit. Dass die Philharmoniker sich ihre Herkunftsbezeichnung in den Orchesternamen setzen, darf als besonders geschickter Marketing-Schachzug gelten. Bis zu 450 Konzerte jährlich dienen dafür als Beleg.

Das forsche Auftreten der Berliner Philharmoniker erschüttert alsbald auch Wien. „Diese sechs Abende hintereinander, das ist wohl die größte musikalische Zumuthung, die an das Wiener Publikum je gestellt worden“, empört man sich im Wiener Fremden-Blatt 1897 anlässlich eines Konzertzyklus der Berliner; für derartig „massenhaft gebotene Genüsse“ besitze wohl niemand die „Empfänglichkeit und Ausdauer“. In einer Woche absolvieren die Berliner Philharmoniker mit sechs Konzerten unter drei verschiedenen Dirigenten ein Programm, für das die Wiener Philharmoniker damals fast eine Saison benötigten.

Wien scheint in seinem Lebensnerv getroffen zu sein: Einmal als „Musikstadt“, die bis dahin vom Glauben beseelt war, über das „beste Orchester der Welt“ zu verfügen. Dann aber auch als ehemalige deutsche „Kaiserstadt“: Diesen Status hat Wien durch die deutsche Reichsgründung 1870/71 faktisch verloren. In den Auftritten der Berliner Philharmoniker und in der Wiener Reaktion darauf bildet sich somit das politische Kräfteverhältnis zwischen Österreich und Deutschland ab: Hier die machtpolitisch ins Hintertreffen geratene Donaumonarchie, die auf der Ebene von Musik und Theater den realpolitischen Machtverlust zu kompensieren trachtet; dort das junge, aufstrebende Reich, dessen Potenz sich nun auch musikalisch versinnbildlicht.

Mit ernsthaften staatspolitischen Absichten werden die Aktivitäten der Orchester aber erst im Ersten Weltkrieg überzogen, als beide neben „Wohltätigkeitskonzerten“ zugunsten von Kriegsopfern erstmals musikalische Propagandareisen ins neutrale Ausland absolvieren: Das Protokollbuch der Wiener Philharmoniker vermerkt dazu eine streng geheim zu haltende „Einladung des Ministeriums des Äußeren zu einer Konzert- Tournee ins neutrale Ausland“, die die Wiener 1917 mit einer „Friedensmission“ in die Schweiz führt, während die Berliner fast zeitgleich nach Schweden und Dänemark reisen.

Seither wächst die politische Bedeutung beider Orchester stetig an. So partizipieren die Wiener Philharmoniker an Österreichs außenpolitischen Bestrebungen 1925 mit einer Deutschland-Tournee, bei der sie von hohen Regionalpolitikern als diplomatische Vertretung eines anschlusswilligen Österreichs gepriesen wurden. Zugleich setzen sie auch nach innen Zeichen, etwa mit der Gründung des Philharmoniker-Balls 1924 – nicht nur ein Akt kaufmännischer Klugheit, sondern eine weitere Einschreibung des Orchesters in den „Musikstadt Wien“-Topos. Auch die allmähliche Annäherung an die Werke der Strauß-Dynastie im Laufe der zwanziger Jahre stellt eine Verfestigung der Wien-Bezüge dar. Wiener Philharmoniker, „Wiener Musik“ und „Wiener Klangstil“ gelten bald als Synonyme.

Die Politisierung der Berliner Philharmoniker hingegen verläuft ausschließlich über Reichsbezüge. Als das Orchester im Laufe der zwanziger Jahre, inmitten von Inflation und Wirtschaftskrise, immer stärker auf Subventionen angewiesen ist, legitimiert es etwaige Finanzzuschüsse mit dem Hinweis auf seine nationale Bedeutung. Hilfe könne „nur vom Staate und der Stadt“ ausgehen, heißt es in einem Presseaufruf 1922. Die Musik sei eine „Kulturmacht“, die „den Kern des Volkes gesund und arbeitsfreudig“ erhalte – mit Verweis auf den Dreißigjährigen Krieg und die „Erniedrigung nach Jena“. Tatsächlich wachsen die städtischen und staatlichen Subventionen beträchtlich an und mit ihnen die politische Einflussnahme. Immer häufiger erfüllen die Philharmoniker außenpolitische Missionen. Ende der zwanziger Jahre stellt die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes unter ausdrücklicher Erwähnung des Berliner Philharmonischen Orchesters fest, die Erfolge deutscher Musik im Ausland ließen kaum Wünsche offen. Auch Wilhelm Furtwängler, seit 1922 Chefdirigent, spricht anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Orchesters 1932 von der Musik als dem „einzigen rein-deutschen Ausfuhrartikel“, der eine wirkliche Erhöhung des deutschen Prestiges in der Welt bewirken könne.

Zeitgleich wird der Aufsichtsrat des Orchesters mehrheitlich mit Vertretern des Berliner Magistrats und des Deutschen Reichs besetzt. Als die Nationalsozialisten1933 die Macht ergreifen, sind die Beziehungen zwischen der staatlichen Bürokratie und den Berliner Philharmonikern bereits eng verflochten. Für Propagandaminister Joseph Goebbels ist es ein Leichtes, das Orchester gänzlich dem Reich einzuverleiben – was er 1934 auch tut, indem er die Besitzverhältnisse vollständig umkrempelt. Goebbels kauft den Orchestermitgliedern alle Anteilsscheine ab, über die sie bisher an der als GmbH organisierten Institution beteiligt waren und macht den Staat zum Alleininhaber. Damit wird die Verstaatlichung des „deutschen Klangs“ besiegelt.

Subtiler gestaltet sich der Politisierungsverlauf der Wiener Philharmoniker. Ihren 1908 erlangten Vereinsstatus behalten sie während „Austrofaschismus“ und Nationalsozialismus bei. Dadurch, dass das Orchester auch in der Wiener Staatsoper spielt, lastet der finanzielle Druck nicht allein auf den Konzertaktivitäten, man ist unabhängiger. Als die Philharmoniker nach dem „Anschluss“ um die Beibehaltung ihrer Vereinsverfassung verhandeln, verzichten sie von sich aus auf eine staatliche Subventionierung.

Der „Musikstadt Wien“-Topos aber wird politisch weiter aufgeladen, nicht zuletzt, weil Österreich unter dem Dollfuß-/Schuschnigg-Regime NS-Deutschland gegenüber an seiner kulturellen Existenzberechtigung festhalten will. Dabei kommt der Musik eine zentrale Rolle zu: „Hätte unser Vaterland nichts anderes an Kulturzeugnissen aufzuweisen als seine musikalische Vergangenheit, es rangierte dadurch allein in der ersten Reihe der Staaten, die eine europäische Kultur gesetzt haben“, heißt es 1936 in der regimenahen Kulturzeitschrift „Die Pause“. Damit geraten auch die Wiener Philharmoniker verstärkt ins Blickfeld einer staatspolitischen Funktionalisierung, zumal deren Vorstand Hugo Burghauser enge Kontakte zum Regime unterhält. Umstrittene politische Konzertauftritte etwa setzt er damit durch, das Orchester gefährde seine Unabhängigkeit, wenn es seinen „patriotischen Pflichten“ nicht nachkomme.

Ihren absoluten Höhepunkt erreicht die Politisierung der Wiener und Berliner Philharmoniker im Nationalsozialismus - und zwar auch jenseits der ungemein hohen NSDAP-Mitgliedschaften der Orchestermitglieder (rund 20 Prozent bei den Berliner Philharmonikern, 47 Prozent bei den Wiener Philharmonikern) oder den Entlassungen der jüdischen Musiker als folgenschwerstem Einschnitt. So greift Goebbels den finanziell schwer angeschlagenen Berlinern mit einem beispiellosen Sanierungsprogramm unter die Arme und macht sie über Nacht zu den bestverdienenden Orchestermusikern Deutschlands. Außerdem bewahrt er sie kollektiv vor dem Einzug in die Wehrmacht und hält diese „UK-Stellung“ bis zum Ende des Krieges aufrecht. Im Gegenzug erreicht der außenpolitische Aktivismus des Orchesters nach Kriegsbeginn eine Vehemenz, die alle bisherigen Tournéeaktivitäten in den Schatten stellt: Zwischen 1940 und 44 ist die Zahl der Konzerte im Ausland fast dreimal so hoch wie in Vorkriegszeiten. Der nun staatlich verankerte „deutsche Klang“ des Orchesters liefert die Begleitmusik zum deutschen Kanonendonner in besetzten Gebieten, erfreut aber auch neutrale Staaten immer wieder.

Auch die Wiener Philharmoniker tragen ihr Scherflein dazu bei, die Wehrmachtsverbrechen musikalisch zu flankieren. Nur zwei Monate nach der deutschen Besetzung Polens etwa, im Dezember 1939, treten sie auf persönliche Einladung des „Generalgouverneurs“ Hans Frank in Krakau auf. Zugleich aber „verwienert“ das Orchester nach dem Anschluss von 1938. Da Österreich in Reichsgaue aufgelöst wird und Wien seinen Status als Hauptstadt verliert, lässt die musikalische Außenrepräsentation zwangsläufig nach, die Auslandskonzerte der Wiener Philharmoniker nach 1938 sind zahlenmäßig stark rückläufig. Seit 1940 amtiert Baldur von Schirach als Wiener Gauleiter und Reichsstatthalter. Er verfolgt ehrgeizige kulturpolitische Ziele und möchte Wien im innerdeutschen Städtewettbewerb möglichst vorteilhaft positionieren. Zu diesem Zweck scheut er nicht davor zurück, Goebbels die Stirn zu bieten und die Wiener Philharmoniker nach dessen Vorbild zu protektieren. Zwar verfügt er nicht über die finanziellen Mittel des Propagandaministers, aber er erlangt für die Wiener Philharmoniker ebenfalls eine bis Kriegsende andauernde „UK-Stellung“. Zum 100. Geburtstag des Orchesters lässt er einen Teil der Wiener Augustinerstraße kurzerhand in Philharmonikerstraße umbenennen. Das Orchester dankt es ihm mit der Verleihung des „Ehrenringes der Wiener Philharmoniker“.

Auch das heute sprichwörtliche Walzer-Image der Wiener Philharmoniker geht zur Hauptsache auf die Zeit des Nationalsozialismus zurück. Seit 1938 wird verstärkt Strauß gespielt, vor allem auch im Rundfunk. Seinen aus spieltechnischer Sicht auf die „Wiener Klassik“ zurückgehenden „Wiener Klangstil“ dehnt das Orchester im Nationalsozialismus damit auf Bereiche aus, die diesen erst in der Nachkriegszeit weltberühmt machen sollen. Am erfolgreichsten ist hier das Neujahrskonzert, das 1939 erstmals veranstaltet und 1959 erstmals live im Fernsehen übertragen wird. Heute kann es in rund 70 Ländern mitverfolgt werden, von Uruguay bis Australien. Dieses Konzertereignis wird „weltweit zum Inbegriff wienerischer Musikkultur“, wie die Wiener Philharmoniker auf ihrer Homepage schreiben. Sein internationales Renommee verdankt der „Wiener Klangstil“ jedoch paradoxerweise und ausgerechnet der während des Nationalsozialismus vollzogenen Provinzialisierung der Wiener Philharmoniker.

Bei den Berlinern ist es gerade umgekehrt: Aufgrund ihrer anhaltenden internationalen Präsenz werden sie zu den ersten Repräsentanten einer „deutschen“ Orchesterkultur, wodurch sich allmählich auch die Zuschreibung des „deutschen Klangs“ als Merkmal des Orchesters etabliert. Äußerst zuträglich ist dieser Entwicklung in der Nachkriegszeit der medienbewusste Herbert von Karajan, seit 1955 Chefdirigent des Orchesters (und von 1957 bis 1964 außerdem Direktor der Wiener Staatsoper!). Karajan, ein Miterfinder der CD, verkauft weltweit über 300 Millionen Tonträger, das Standardrepertoire nimmt er teilweise bis zu fünfmal auf, meist abwechselnd am Pult der Berliner und der Wiener. Auch Claudio Abbado und Simon Rattle, seine Nachfolger, arbeiten konsequent mit den Wienern. Das zeigt, dass beide Orchester sich als Marken verstehen, als traditionell konkurrierende Labels um die Gunst der teuersten und berühmtesten Dirigenten und des Publikums auf der ganzen Welt.

Sinnbildlich dafür mag die Architektur stehen: Hans Scharouns zeltartig-futuristische Philharmonie von 1963 und der klassizistische Wiener Musikverein aus dem Jahr 1870. Im Ästhetischen spiegelt sich das Politische ebenso wie im Medialen: Am Ende dieses Wettbewerbs steht in Berlin derzeit die „Digital Concert Hall“, eine neuerliche mediale Pionierleistung, die es ermöglicht, die Konzerte live im Internet zu verfolgen. In Wien hingegen ist der Mitschnitt des Neujahrskonzerts von Jahr zu Jahr früher zu haben, mittlerweile nur wenige Tage nach dem Event selbst.

So sehr die musikästhetische Rezeption heute also auf die Verschiedenheit der beiden Zuschreibungen „deutscher Klang“ und „wienerischer Klangstil“ pocht, so nah beieinander liegen letztlich die Umstände ihrer historischen Etablierung und Verbreitung: Mit der Politisierung der Wiener und Berliner Philharmoniker ging auch die politische Zuweisung ihrer Klangattribute einher.

Der Autor veröffentlicht dieser Tage im Wiener Böhlau-Verlag das Buch „Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus“. 376 Seiten, 39 Euro.

Fritz Trümpi

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