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Boris Johnson (r.) und sein Berater Dominic Cummings.

© AFP/Daniel Leal-Olivas

Brexit-Chaos in Großbritannien: Haben sich Boris Johnson und Dominic Cummings verzockt?

Der Premierminister und sein Berater haben sich in eine fast aussichtslose Situation manövriert. Doch die EU gibt sich unnachgiebig – noch.

Dominic Cummings eilt ein eindeutiger Ruf voraus. Der 47-Jährige sei ein „unflätiger Trottel“, sagte einmal der Tory-Hinterbänkler Roger Gale. Und Großbritanniens ehemaliger Regierungschef David Cameron nannte Cummings sogar einen „Karriere-Psychopathen“. Tatsächlich betrachtet dieser seine politischen Kampagnen als Vernichtungsfeldzüge und zitiert mit Vorliebe den chinesischen General Sun Tzu (544-496 vor Christus).

Dessen Schriften handeln viel von psychologischer Kriegsführung – und so ließen sich auch viele der Initiativen einordnen, die Boris Johnson mit Cummings’ Hilfe zuletzt angestoßen hatte. Der britische Premierminister hatte den ehemaligen Chefstrategen der Brexit-Kampagne „Vote Leave“ zu seinem engsten Berater gemacht. Deutlicher hätte die Kriegserklärung an den linksliberalen Tory-Flügel und das kleine Häuflein von EU-Freunden in der Parlamentsfraktion nicht ausfallen können. Das Misstrauen gegen Cummings wird durch zwei Faktoren noch verstärkt: Zum Einen ist der Historiker nicht einmal Mitglied der konservativen Partei, ja hält alle Parteien für obsolet.

Doch auch Cummings hat Johnson nicht zu Erfolgen verhelfen können. So hat die Zwangspause fürs Parlament, um deren Legalität am Donnerstag vor dem Londoner High Court gestritten wurde, Widerstandskräfte freigesetzt, mit denen Johnson und Cummings offenbar nicht rechneten. Jedenfalls probten 21 altgediente Torys den Aufstand und erzwangen mit einer überparteilichen Anti- Chaos-Allianz ein neues Brexit-Gesetz. Sollte es am Montag rechtskräftig werden, müsste der Premierminister dem Parlament spätestens am 18. Oktober einen Austrittsvertrag vorlegen oder bei der EU um Aufschub bis Ende Januar bitten.

Der Abschied seines jüngeren Bruders Joseph Johnson vervollständigte am Donnerstag eine Serie von Niederlagen, die der seit Ende Juli amtierende Boris Johnson in dieser Woche einstecken musste. Bis dahin schien sein Plan aufzugehen. Der 55-Jährige kam mit dem Versprechen ins Amt: Ich setze den Brexit zum geplanten Termin am 31. Oktober durch, „ohne wenn und aber“. Notfalls, so hieß es zunächst, müsse man auch chaotisch ohne Vertrag („No Deal“) aus der EU ausscheiden; aber die Chance dafür betrage „höchstens eins zu einer Million“.

"Das Volk gegen das Parlament"

Schließlich werde er, Johnson, die EU zu einer Kursänderung bringen und einen neuen Vertrag ohne die Auffanglösung für Nordirland („Backstop“) aushandeln. Anschließend, so verkündeten es die Johnson zugewandten Zeitungen „Daily Telegraph“ und „Spectator“, werde der Brexit-Triumphator eine Neuwahl ausrufen und gewinnen. Spekuliert wurde nur über den Termin.

Viele Beobachter in London glauben, in Johnsons Äußerungen und Initiativen Cummings’ Handschrift zu erkennen. Mit dem Slogan „Das Volk gegen das Parlament“ wolle sich Johnson als Anführer der zur Brexit-Party umgewandelten Torys an die Wählerschaft wenden und damit den Chaos-Brexit durchsetzen. Dass auch dieser Plan am Mittwoch vorläufig scheiterte, muss Cummings verbittert haben. Jedenfalls wollte der 47-Jährige spätabends im Parlament – Augenzeugen zufolge volltrunken – den Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn zur Rede stellen, was dessen Begleiter verhinderten.

Der kleine Bruder hat genug

Selbst bei einem Wahlsieg der Konservativen werde Cummings in spätestens einem Jahr nicht mehr auf seinem Posten sein, prophezeit der frühere höchste Beamter des Landes, Gus O’Donnell, der den Eigenbrötler aus nächster Nähe erlebt hat. Denn dieser sei an der Brexit-Revolution interessiert, nicht aber an ordentlicher, langfristiger Regierungsarbeit. Joseph Johnson ist das genaue Gegenteil. Dass der integre und kluge Politiker seinem Bruder schon jetzt untreu wird, hat viel mit Cummings’ einstweilen noch großem Einfluss zu tun.

EU-Vertreter beobachten mit Sorge die Zersetzungsprozesse der politischen Landschaft in London. Elmar Brok (CDU), ehemaliger Brexit-Beauftragter des Europa-Parlaments und jetzt Sonderberater von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, spricht die Befürchtung aus, dass Großbritannien unter der Auseinandersetzung um den EU-Austritt zerbrechen könnte: „Der Brexit ist inzwischen nur noch eine Sache der Engländer gegen Schotten, Iren und Waliser.“

Kann die EU etwas für Stabilität in London tun?

Auch hinter vorgehaltener Hand kreisen aber die Gespräche von EU-Diplomaten in diesen Tagen der heftigen innerbritischen Auseinandersetzungen immer wieder um die Frage: Kann die EU etwas tun, damit im Vereinigten Königreich wieder mehr politische Stabilität einzieht?

So sehr sich in Brüssel die Sorge breit macht, das Vereinigte Königreich könnte vollends im Chaos versinken und dann auch nach seinem Austritt aus der EU als Partner in der Sicherheitspolitik und im Handel ausfallen: Die EU sieht sich gerade nicht als Akteur. Brok sagt: „Es ist eine ungeheure Eigendynamik auf der Insel im Gange, da haben wir nur sehr begrenzt Einfluss.“

David McAllister (CDU), Chef des Auswärtigen Ausschusses im Europa-Parlament, sagt auf die Frage, ob Brüssel London nicht helfen müsse: „Die EU hilft der britischen Regierung bereits seit dem Referendum 2016.“ Die Europäer hätten den Brexit noch nie gewollt, man habe aber das Ergebnis der Volksabstimmung als demokratische Entscheidung anerkannt und 18 Monate lang das Austrittsabkommen verhandelt. Die Europäer seien dabei viele Kompromisse eingegangen. „Jetzt liegt der Ball eindeutig im britischen Spielfeld“, sagt McAllister.

Keine Risse im EU-Lager

Es gibt niemanden auf EU-Ebene, der das Austrittsabkommen noch einmal aufmachen will. McAllister sagt: „Das Austrittsabkommen steht. Es ist ein guter Kompromiss, der akzeptiert werden sollte.“ Diese Linie vertreten auch die Mitgliedstaaten. Am Mittwoch haben sich erstmals nach der Sommerpause die 28 Ständigen Vertreter wieder mit Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier getroffen. Anders als die britische Seite es darstellt, gibt es laut EU-Diplomaten keine Risse im EU-Lager.

Also gibt es gar keinen Spielraum beim „Backstop“? Jener Versicherungslösung also, die besagt, dass Nordirland notfalls im EU-Binnenmarkt bleibt, sollte in der Übergangsphase nach einem geordneten Austritt keine einvernehmliche Lösung der irischen Grenzfrage gefunden werden. Doch die EU ist durchaus dazu bereit. Aber eben nur im Rahmen der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach einem geordneten Austritt Ende 2020. Man sei offen für Vorschläge aus London, heißt es in Brüssel. Nur: Bislang hat London nichts vorgelegt.

Der Versuch, der EU die Schuld zuzuschieben

Auf Wunsch der britischen Seite treffen sich die Unterhändler von London und Brüssel zwei Mal die Woche und reden. Zuletzt am Mittwoch, das nächste Mal am Freitag. Und wie zu hören war, dauerte die vergangene Sitzung sogar überraschend lange. „Nur haben die Briten keinen Vorschlag zum Backstop gemacht. Dazu kommt gar nichts“, klagt ein EU-Diplomat. Inzwischen glauben Brüsseler Diplomaten, dass Boris Johnson auch keine Vorschläge für den Backstop machen wird. Seine Ankündigungen seien lediglich der Versuch, der EU die Schuld für den Fall eines chaotischen Brexit Brüssel zuzuschieben.

Einer abermaligen Verschiebung des Brexit bis Ende Januar müssten alle Staats- und Regierungschefs einstimmig beschließen. Ein Selbstläufer wäre das nicht. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron etwa war beim letzten Mal erst nach langen Verhandlungen bereit, den Briten mehr Zeit zu geben. McAllister hätte Sympathien dafür: „Voraussetzung wäre eine glaubhafte und überzeugende Begründung, zum Beispiel das Abhalten von Neuwahlen.“

Brok könnte sich vorstellen, die Fristverlängerung davon abhängig zu machen, ob London ein zweites Referendum über den Verbleib in der EU abhält. Ein hoher EU-Diplomat glaubt auch, dass eine Verschiebung nicht an der EU scheitern würde: „Der irische Außenminister hat sich bereits offen für eine weitere Verschiebung gezeigt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die anderen Mitgliedstaaten sich hier über die Interessen des Landes, das am stärksten betroffen ist, hinwegsetzen würden.“

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