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Premierministerin Theresa May im britischen Unterhaus

© Mark Duffy/House of Commons/dpa

Brexit-Debatte: Theresa Mays Deal ist noch nicht tot

Das Unterhaus hat begriffen, dass der schmerzhafte Auswahlprozess zum EU-Austritt gerade begonnen hat. Populäre Alternativen gibt es nicht. Ein Gastbeitrag.

Ich verstehe, dass die Briten den Rest Europas derzeit zur Verzweiflung bringen. Ich sehe ein, dass der Ruf meines Landes als vernünftig, pragmatisch und politisch eher langweilig gerade auf dem Müllhaufen landet. Aber genug herumgejammert, die entscheidenden Fragen lauten: Was passiert hier gerade eigentlich und was könnte noch in Kürze noch dazukommen?

Das Ausmaß der Niederlage, die die Premierministerin Theresa May im Parlament am vergangenen Dienstag erlitten hat, war sicher bedeutsam. Wohl noch wichtiger war aber die Tatsache, dass die Abstimmung, endlich, den Moment markiert, an dem das Unterhaus einen langsamen, für schlechte Laune sorgenden Auswahlprozess begonnen hat.

Als die Abgeordneten in großer Anzahl mit „Nein“ stimmten, haben sie ihrer Unzufriedenheit mit einer von mehreren Optionen Ausdruck gegeben, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Zuviel Auswahl kann durchaus etwas Schlechtes sein.

Innerhalb des Unterhauses finden sich Unterstützer für Mays mit der EU ausgehandeltes Ausstiegsabkommen, für ein alternatives Abkommen, für ein „No Deal“-Szenario und für den Verbleib in der EU. Allerdings zeichnet sich, Stand jetzt, für keine der Optionen eine Mehrheit ab. Offensichtlich ist die Unterstützung für Mays Plan, vorsichtig formuliert, nicht gerade überwältigend. Was wir aber nicht wissen ist, ob die Unterstützung für eine der anderen Alternativen größer wäre.

May ist nur aus Mangel an Alternativen noch im Amt

Die Abwesenheit populärer Alternativen ist zu einem immer häufiger auftretenden Charakteristikum der britischen Politik geworden. Mrs. May darf nicht etwa deswegen in Downing Street Nr. 10 bleiben, weil sie besonders beliebt wäre oder sich gar als besonders kompetent erwiesen hätte. Sie ist nur noch deswegen im Amt, weil es keinen Konsens unter den Konservativen gibt, wer sie ersetzen sollte. Einigkeit besteht unter ihnen nur darin, dass Labour-Chef Jeremy Corbyn als Premierminister noch schlimmer wäre.

Deswegen überlebte die Premierministerin das Misstrauensvotum. Aber jetzt, vermute ich, wird die Sache Fahrt aufnehmen. Jeremy Corbyn muss sich entscheiden, ob er sich der Forderung nach einem weiteren Referendum anschließt, oder ob er es ernsthaft weiter mit Misstrauensanträgen versuchen will, die keine Aussicht auf Erfolg haben.

Gleichzeitig wird das Scheitern des Misstrauensvotums gegen Theresa May in den Reihen hinter Jeremy Corbyn für einiges Grübeln sorgen. Auch, wenn viele ein zweites Referendum lauthals unterstützen, so verursachst es doch bei vielen Labour-Abgeordneten, gelinde gesagt, Beklemmungen. „Wir wollen eine weitere Abstimmung“ war eine nützliche Bremse, ein Mittel, um jene Grundsatzentscheidung hinauszuzögern, die die Abgeordneten am Ende doch werden treffen müssen: Die Entscheidung zwischen einem Abkommen, dem „No Deal“-Brexit und einem Referendum.

Forderungen nach zweitem Referendum klingen zunehmend hohl

Doch die Forderungen nach einer weiteren Abstimmung klingt zunehmend hohl. Wenn die Premierministerin am Montag das Unterhaus darüber unterrichtet, wie sie weiter verfahren will, wird der Entscheidungsdruck noch weiter zunehmen. Wahrscheinlich wird die anschließende Abstimmung über Mays Vorschlag einiges an Änderungsvorschlägen hervorbringen - vielleicht, was die Zollunion und die Mitgliedschaft im gemeinsamen Binnenmarkt betrifft, vielleicht auch den Vorschlag eines zweiten Referendums. Und dann werden wir endlich, endlich, endlich, eine Vorstellung davon bekommen, welche Abgeordneten für welche Option sind. Die Rechnung der Premierministerin geht dabei so: Wenn die Entscheidungsmöglichkeiten offensichtlicher werden und sich die drei Möglichkeiten herausschälen, werden die Abgeordneten am Ende noch einmal über ihr Abkommen nachdenken

Denn der Austrittsvertrag, wie Theresa May ihn in der vergangenen Woche dem Parlament vorgelegt hat, wird so oder so Teil des Deals sein, wenn Großbritannien die EU geordnet verlässt. Sicher, Brüssel wird sich vielleicht auf die eine oder andere Umformulierung der „Politischen Erklärung“ einlassen, die das eigentliche Austrittsabkommen ergänzt, aber nicht bindend ist. Jedenfalls dann, wenn die EU27 überzeugt sind, dass das Theresa May helfen könnte, eine Mehrheit für das Abkommen zusammenzuzimmern. Sie könnten bei den Vereinten Nationen - und damit bindend nach internationalem Recht - eine „Erklärung zur Auslegung“ des Austrittsabkommens abgeben, mit der sie deutlich machen, dass sie in jedem Fall darauf hinarbeiten werden, das Auslösen des „Backstops“ zu vermeiden. Ein „Backstop“ würde bedeuten, dass Nordirland auf unbestimmte Zeit Teil des europäischen Binnenmarktes bleibt, um Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden.

Die EU wird Dublin nicht verraten

Aber was wäre mit dem eigentlichen Austrittsabkommen? Es bleibt sehr unwahrscheinlich, dass die Europäische Union das Paket noch einmal aufschnürt. Und es ist undenkbar, dass sie den „Backstop“ verwässern und damit Dublin verraten.

Der Brexit scheint sich jetzt schon ewig hinzuziehen. Und trotzdem, so überraschend das auch erscheinen mag, haben die Abgeordneten offenbar erst jetzt begriffen, dass ihnen die endgültige Entscheidung noch bevorsteht. Und nochmal, es geht um die Wahl zwischen Austritt mit Abkommen, ohne Abkommen oder eine erneute Befragung der Bevölkerung. Die Premierministerin wurde am Dienstag im Unterhaus gedemütigt. Ihr Austrittsabkommen liegt auf der Intensivstation und es sieht nicht gut aus. Aber es ist trotz allem immer noch zu früh, es definitiv für tot zu erklären.

Anand Menon ist Professor für europäische Politik und auswärtige Angelegenheiten am King's College in London und leitet das Institut „UK in a Changing Europe“

Anand Menon

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