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 Vorerst bleibt der Fahnensalat und zwischen Großbritannien und der EU ist weiter keine klare Sicht in Sicht (Archivfoto).

© Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

Brexit, Orban und der Europagipfel: Was ist schlimmer für die EU – Großbritanniens Abschied oder Ungarns Bleiben?

Was der Brexit wirklich bedeutet, wird sich erst in fünf bis zehn Jahren zeigen. Bis dahin wird auch die EU vielleicht schon ganz anders aussehen. Ein Gastbeitrag.

Timothy Garton Ash ist Professor für European Studies an der Oxford University und Senior Fellow an der Hoover Institution, Stanford Universität. Jüngst erschien die erweiterte Neuausgabe seines Buchs „Ein Jahrhundert wird abgewählt (Hanser). Bei Twitter unter @fromTGA.

'Brexit bedeutet Brexit' - das Mantra der ehemaligen britischen Premierministerin Theresa May verdient einen Platz in den Philosophie-Lehrbüchern als bedeutungslosester Satz, der je das Wort 'bedeuten' enthielt. Aber machen wir uns nicht vor, dass wir - wenn wir endlich herausfinden, ob es ein minimales oder gar kein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU gibt - wüssten, was Brexit heißt.

Es wird sicher fünf Jahre dauern, wahrscheinlich sogar zehn, bis wir klar umreißen können, wie die neuen Beziehung zwischen den vorgelagerten Inseln und dem Kontinent aussehen. Bis dahin wird die EU vielleicht eine ganz andere Gemeinschaft als heute sein, und das Vereinigte Königreich wird vielleicht gar nicht mehr existieren.

In einem nächsten Referendum, das in den kommenden Jahren folgen dürfte, werden die Schotten entscheiden, ob sie die 300 Jahre alte Union mit England verlassen und der europäischen wieder beitreten wollen. Stimmen sie trotz der damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten für die Unabhängigkeit, wird das Vereinigte Königreich faktisch aufhören zu existieren.

Jeder britische Politiker, der will, dass die Schotten bei den Engländern bleiben, muss also - als Alternative zur Unabhängigkeit - möglichst bald ein anderes, föderales Modell der britische Union vorlegen. Es würden also entweder das Ende des Vereinigten Königreichs oder ein neues föderales Königreich Britannien zur Auswahl stehen.

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Der Weg vom Referendum 2016 bis zu diesem harten Brexit ist übersät mit gebrochenen Versprechen - von Boris Johnsons Artikel im “Daily Telegraph” in dem fröhlich behauptete, dass "es weiterhin freien Handel und Zugang zum Binnenmarkt geben wird", bis zu dem Handelsminister Liam Fox, der sagte, das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union "sollte eines der einfachsten in der Geschichte der Menschheit sein".

Den “Brexiteers” gelang es in einem Meisterstück von kognitiver Dissonanz, zwei unvereinbare Gedanken gleichzeitig zu vertreten: dass einerseits "Europa" ein abscheuliches deutsch-französisches Komplott sei, um England in ein napoleonisches Imperium zu versenken, dass aber andererseits dieselben neuen Napoleons - auf Anweisung der deutschen Autoindustrie - verpflichtet wären, dem Vereinigten Königreich privilegierten, ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, damit die Briten – wie Boris Johnson so gern sagt - ihren Kuchen haben und gleichzeitig essen können.

Die Frage ist nun, ob sich eine Annäherungs- und eine Trennungsdynamik zwischen Großbritannien und der EU entwickeln wird.

Jede andere als die derzeitige populistische britische Regierung würde einen weicheren Brexit bevorzugen. Das könnte auch eine konservative Regierung sein, aber nur eine pragmatischere und kompetentere, etwa unter Führung von Rishi Sunak, dem derzeitigen Finanzminister.

Und noch mehr würde das natürlich für eine Labour-Regierung - oder eine von der Labour-Partei geführte Koalitionsregierung - unter Keir Starmer gelten. Diese Aussicht wie auch die Logik des wirtschaftlichen Eigeninteresses legt nahe, dass Großbritannien nach dem Brexit allmählich, Sektor für Sektor, Thema für Thema, wieder näher an die EU heranrücken wird.

Andererseits gilt: Je härter der Brexit wird, desto mehr muss Großbritannien nach einem alternativen Geschäftsmodell suchen. Wie der Oxford-AstraZeneca Covid-Impfstoff zeigt, haben England und Wales auch allein noch Stärken: Finanzdienstleistungen, großartige Universitäten, Biotechnologie, Deepmind, alternative Energien, kreative Industrien.

Die Hoffnung, ohne die nervigen Briten sei die EU einiger, trügt

Die Wirtschaft würde nach einem Brexit kleiner sein als ohne ihn, aber mit der Zeit könnte sie ein neues, wettbewerbsfähiges Profil entwickeln. Das allein deutet schon auf Divergenzen hin. Überdies dürften das böse viele Blut und die gegenseitigen Beschuldigungen rund um einen "No-Deal'"-Brexit-Streit, wenn es dazu kommt, zunächst auch die Zusammenarbeit auch in Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik belasten und behindern.

Doch die Zukunft nach dem Brexit wird ebenso stark von den Entwicklungen jenseits des Ärmelkanals abhängen. Die Menschen in Deutschland, Frankreich oder Italien sprechen nur noch selten über Brexit, und das nicht nur, weil sie die Schnauze voll haben. Sondern auch, weil die EU vor zwei weiteren enormen Krisen steht, die auf dem europäischen Gipfel in dieser Woche sicherlich diskutiert werden.

Die EU muss dringend ihr Haushaltsbudget und ihren Coronahilfsfonds - insgesamt nicht weniger als 1,8 Billionen Euro – verabschieden, denn sonst wird die Erholung nach der Krise schwierig. Zudem könnten die Nord-Süd-Spannungen innerhalb der Eurozone wieder akut werden.

Doch vor der Verabschiedung muss das angedrohte Veto von Ungarn und Polens überwunden werden. Die beiden Länder hielten den Rest der EU als Geisel, um den vorgeschlagenen Rechtsstaatsmechanismus zu schwächen, der die Verteilung der Gelder an rechtsstaatliche Bedingungen knüpfen will.

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Es wurden inzwischen sogar Stimmen laut, die im Brexit eine Chance für die EU sehen, weil deren restliche Mitgliedstaaten dann – befreit von den nervigen Angelsachsen – weitere Integrationsschritte anpeilen können. Aber das ist eine Illusion.

Es bedurfte in diesem Sommer eines fünftägigen Gipfel-Marathons, um sich gegen den heftigen Widerstand der "sparsamen Vier" (Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande) auf den Haushalt und den Coronarettungsfonds zu einigen, wobei der niederländische Premierminister Mark Rutte die Margaret Thatcher in Anzughosen gab.

Die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher verlangte zwar britisches Geld zurück - arbeitete ansonsten aber an EU-Projekten mit. Anders Ungarn und Polen.
Die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher verlangte zwar britisches Geld zurück - arbeitete ansonsten aber an EU-Projekten mit. Anders Ungarn und Polen.

© REUTERS

Und das, was der ungarische Premierminister Viktor Orbán und der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki ihren EU-Partnern jetzt antun, lässt die ehemalige britische Premierministerin regelrecht wie einen Europa-Fan aussehen. Ja, sie hat “Ich will mein Geld zurück" gerufen, aber immerhin war Großbritannien ein bedeutender Nettozahler für den europäischen Haushalt.

Und nachdem Thatcher ihren Rabatt erhalten hatte, hat sie ein zentrales Projekt der europäischen Integration energisch vorangetrieben: den Binnenmarkt, dessen "level playing field' – eine sehr britische Metapher für "gleiche Wettbewerbsbedingungen" – die EU nun von Großbritannien einfordert.

Ungarn und Polen sagen: Geben Sie uns Ihr Geld, wir machen damit, was wir wollen!

Ungarn und Polen dagegen sind große Nettoempfänger (Ungarn beispielsweise könnte aus dem EU-Haushalt und dem Konjunkturfonds Summen erhalten, die zusammen mehr als sechs Prozent seines BIP ausmachen).

Dennoch weigern sich die beiden Länger, einige recht minimale rechtsstaatliche Bedingungen zu akzeptieren, ohne die die EU allmählich aufhören wird, eine Gemeinschaft von Demokratien und eine gemeinsame Rechtsordnung zu sein.

Vielmehr sagen die ungarische und die polnische Führung den deutschen und niederländischen Steuerzahlern: “Wir werden nicht zulassen, dass Sie die dringend benötigten Geldtransfers an Länder der südlichen Eurozone wie Italien und Spanien vornehmen, die beide von Covid hart getroffen wurden, es sei denn, Sie gestatten uns, große Mengen Ihres Geldes ohne nennenswerte Einschränkungen weiter zu verwenden.”

Und in Ungarn bedeutet das, dass EU-Gelder verteilt werden, um Orbáns zunehmend undemokratisches Regime zu stützen, ganz zu schweigen von seiner Familie und seinen Freunden.

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Derzeit scheint diese schamlose Erpressungstour erfolgversprechend zu sein, da die deutsche EU-Präsidentschaft offenbar bereit ist, den Rechtsstaatsmechanismus weiter abzuschwächen.

Dann können die populistischen, fremdenfeindlichen, nationalistischen Regierungsparteien in Ungarn und Polen auch weiter tun, was ihnen gefällt, dafür von den deutschen und niederländischen Steuerzahlern großzügig bezahlt werden - und obendrein die Hand beißen, die sie füttert.

Also Vorspulen zu Hungexit oder Polexit? Nichts von beidem. Warum sollten die zwei Länder so dumm sein? Johnson kann von seinem Kuchen reden, den er haben und essen will - Orbán macht es aber, anstatt nur davon zu reden.

Nein, die unmittelbare Bedrohung für die EU besteht nicht darin, dass Ungarn und Polen Großbritannien vor die Tür folgen, sondern dass sie Vollmitglieder des Clubs bleiben - Hungstay und Polremain sozusagen - und dabei weiterhin gegen dessen wichtigste Regeln verstoßen. Es ist schwer zu sagen, was jetzt die größere Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union ist: ein demokratisches Großbritannien, das ausgetreten ist, oder ein undemokratisches Ungarn, das bleibt.

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