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Die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU zum Brexit stehen beim EU-Gipfel in Malta auf der Tagesordnung.

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Brexit-Verhandlungen: Europa? Auf der Landkarte Russlands Wurmfortsatz

Die Unzufriedenheit der Bürger mit der EU geht weit über die britischen Inseln hinaus. Aber ohne die EU verlieren die Mitgliedstaaten jedwede Bedeutung auf der politischen Weltbühne. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Das muss wohl so sein. Die Bundeskanzlerin sah sich bei ihrer Regierungserklärung zum EU-Gipfel in Malta – bei dem es um den Brexit gehen wird – offenbar in der Rolle des Einpeitschers der Fankurve im Fußballstadion. Geschlossenheit forderte sie von den 27 verbleibenden Staaten der Gemeinschaft ein. Die Briten dürften sich keine Illusionen machen. Nichts werde mehr so sein wie früher, und über das künftige Verhältnis Londons zur Europäischen Union könne erst gesprochen werden, wenn die Exit-Bedingungen „zufriedenstellend geklärt“ seien. Erst dann könne man über das künftige Verhältnis der EU zu Großbritannien reden.

Wenn sich die Kanzlerin da mal nicht irrt. Das ist eine Verhandlungslinie wie bei einem Gerichtsverfahren, bei dem erst der Schuldspruch verkündet und dann über die Resozialisierung geredet werden wird. In der Diplomatie – und um die geht es hier – strebt man kein Urteil, sondern eine schiedliche Vereinbarung an. Und den Briten wird es umso leichter fallen, die harten Einschnitte eines EU-Austrittes zu akzeptieren (die unausweichlich sind, klar), wenn sie wissen, wie es hinterher weitergeht. Sich ernsthaft einzubilden, dass es andersherum funktionieren könnte, ist schon fast wundergläubig. Jede Wette: Es wird hinter den Kulissen selbstverständlich schon dann Gespräche über das „Danach“ geben, während noch auf der Bühne über die Scheidung verhandelt wird.

Dafür spricht nicht nur die allgemeine Erfahrung des menschlichen Zusammenlebens, darauf weisen auch die Fakten hin. Und diese Fakten kennt die deutsche Bundeskanzlerin genauso wie ihre 26 verbleibenden Mitstreiterinnen und Mitstreiter, und die kennt auch die britische Regierung. Zu diesen Fakten gehört eine weit über die britischen Inseln hinaus verbreitete Unzufriedenheit mit der EU, wie sie heute ist. So hat eine europaweite Umfrage des Berliner Politik-Beratungsinstitutes „Policy Matters“ gezeigt, dass die Bevölkerung in fünf von acht analysierten Staaten in der EU-Mitgliedschaft mehr Nach- als Vorteile sieht. Dazu gehören Tschechien, Schweden, Italien, die Niederlande und Frankreich.

Die Bertelsmann-Stiftung hat in einer Befragung von 12.000 Bürgern aus allen 28 EU-Ländern festgestellt, dass 72 Prozent der Befragten unzufrieden mit der europäischen Politik sind. Die Bürgerinnen und Bürger der Euro-Staaten äußern sich mit 77 Prozent noch negativer, obwohl sie den Euro grundsätzlich unterstützen.

Wer nach Gründen für die reservierte Haltung sucht, muss sich nur die Arbeitslosenzahlen in fünf von der ökonomischen Krise besonders betroffenen Euro-Staaten anschauen: Griechenland 23,5; Spanien 18,0; Italien 11,5; Portugal 10,0; Frankreich 10,0.

Die Gemeinschaftswährung war als friedensstiftendes, alle verbindendes Glied gedacht. Tatsächlich hat sie den Wohlstand der ohnedies prosperierenden Industrie- und Handelsnationen Europas gemehrt, die südeuropäischen Staaten teilweise zu einer riskanten Staatsverschuldung unter vermeintlich günstigen Bedingungen verführt und den Ländern mit weniger entwickelten Ökonomien die Möglichkeit genommen, durch Abwertungen innerhalb der Union konkurrenzfähig zu bleiben.

Die Auswirkungen der Globalisierung und des Zusammenbruchs des Ostblocks sind ein weiterer Grund der Unzufriedenheit mit Europa. An diesen Folgen ist Brüssel – um den Oberbegriff für alle kritisierte Europa-Politik zu verwenden – nicht schuld. Aber unter den Folgen leiden vor allem die Arbeitnehmer in vielen Ländern. Weil ihre Arbeitsplätze vernichtet werden, die Produktion in Länder mit geringeren Löhnen abwandert, sie selbst Konkurrenz durch billigere Arbeitsmigranten bekommen, oder alles zusammen. Genau das war letztlich der Auslöser der Brexit-Entscheidung.

Warum trotzdem zu Europa stehen? Man wünschte sich, dass die Bundeskanzlerin darauf mit etwas Leidenschaft eingegangen wäre. Natürlich weiß jeder, dass das nicht ihr Ding ist. Was ein Auseinanderfallen der Europäischen Union als Folge nationaler Egoismen bedeuten würde, zeigt doch schon ein Blick auf die Landkarte. Geografisch betrachtet, ist Europa nichts als der Wurmfortsatz Russlands. Jeder einzelne der (noch) 28 EU-Staaten ist, global betrachtet, für sich ein Nichts. Nur die EU kann als organisatorischer Rahmen viele im Weltmaßstab kleine Länder zu einem Machtfaktor bündeln. Das gilt in der Wirtschaft, bei internationalen Konferenzen, beim Umgang mit Migration und auch in Sicherheitsfragen. Dafür sollte Deutschland werben, eindringlich, auch jetzt in Malta.

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