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Philippa Sigl-Glöck.

© Nino Halm

Brisantes SPD-Duell: Oxford gegen Ochsentour

Er war am Nahles-Sturz beteiligt, sie will frischen Wind in die SPD bringen. Was der Kampf um den Wahlkreis München Nord über die SPD verrät.

Nein, sie beschwört nicht Willy Brandt, sie ist auch keine, die das Bierzelt rockt. Aber die von einem überzeugt ist: "Sowohl für uns als SPD als auch für Deutschland steht eine Schicksalswahl bevor", schreibt Philippa Sigl-Glöckner in ihrer Bewerbung.

Die wirtschaftliche Krise zeige es deutlich: "Wollen wir als Land amerikanische Zustände verhindern – also die Spaltung unserer Gesellschaft in ein Armenhaus (…) und eine reiche Erbaristokratie – so müssen wir handeln." Auch hier würden Vermögen überwiegend vererbt oder verschenkt, auch hier gehe die Einkommensschere immer weiter auf und die Renditeerwartung von Private-Equity-Fonds bestimme, "wie alte Menschen versorgt werden". Ihre überraschende Kandidatur für den Bundestagswahlkreis München-Nord hat den Abgeordneten Florian Post kalt erwischt, auch wenn sie vor Ort bisher ein unbeschriebenes Blatt ist.

Plötzlich ist da eine 30 Jahre alte weltgewandte Frau, die ihm das Mandat streitig macht. Das Duell ist auch ein Spiegel der aktuellen Probleme der SPD: Aufstieg ist in der Partei, die sich als die Partei des Aufstiegs sieht, nicht ganz leicht.

Harte Kämpfe um Kandidaturen

Es gibt Ellenbogen-Kämpfe um Posten und Listenplätze, wissend, dass bei der nächsten Bundestagswahl sich die Mandatszahl stark verringern ka die Partei dümpelt bei rund 15 Prozent, trotz guter Noten für das Corona-Krisenmanagement. Mitglieder klagen, dass sie kaum noch eingebunden werden, manche Debatte in Twitterblasen, die auch die Vorsitzende Saskia Esken pflegt, gingen an der Lebenswirklichkeit vor Ort vorbei. Und Sigl-Glöckner betont: "Ich kenne unglaublich viele Grüne, die früher mal Jusos waren."

Die SPD hat einen Frauenanteil von 33 Prozent, die Grünen liegen aber bereits über 40 Prozent. Die Aufstiegschancen sind bei den Grünen für junge, gerade weibliche Talente, oft größer und der Umgang miteinander ist oft fairer – gerade bei Wählerinnen hat die SPD ein Problem.

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Ungleiches Duell

Es ist ein ungleiches Duell in München-Nord. Da der 39 Jahre alte, fest in bayerischen SPD-Netzwerken verwurzelte Abgeordnete, der auch mal auf die Holzhammer-Methode setzt und der für sich in Anspruch nimmt, dass er den Rückhalt der Ortsvereine hat. Da die Absolventin von Elite-Unis, die in der Welt vernetzt und von Parteintrigen genervt ist - und die eine neue, progressive SPD will. Als Adidas während des Corona-Lockdowns, keine Miete mehr für die Filialen zahlen wollte, veröffentlichte Post ein Video. Er forderte darin, das Konsumverhalten zu überdenken, da Adidas kleine Vermieter hintergehe – und ließ ein Adidas-Shirt in Flammen aufgehen.

Sigl-Glöckner will das nicht näher bewerten, hat sich aber über die Vermieter der Läden informiert: "Das sind meist große Immobilienfonds." Post war einer der Anführer der Bewegung, die Andrea Nahles zum Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin trieb. Kurz vor dem Rücktritt hatte er dem "Focus" gesagt: "Wir haben mehr als 150 Abgeordnete im Bundestag, fast jeder kann es besser als Andrea Nahles. Der Köder muss dem Fisch schmecken. In unserem Fall: dem Wähler."

Streit um Nominierungs-Zeitpunkt

Er holte 2017 selbst 26 Prozent der Erststimmen im Wahlkreis München- Nord, der CSU-Politiker Bernhard Loos gewann. Post konnte wie nach der Niederlage 2013 über die Landesliste in den Bundestag einziehen. Früher gewann die SPD oft den Wahlkreis, darunter zwei Mal Hans-Jochen Vogel. Über seine plötzliche Gegenkandidatin, die bisher keine Parteikarriere vorzuweisen hat, sagt Post diplomatisch: "Das ist Demokratie und das ist Chancengleichheit." Er kenne sie bisher nicht. Post pocht - auch wegen einer möglichen zweiten Corona-Welle - auf eine Entscheidung im September, was Sigl-Glöckner weniger Zeit zum Werben in den zehn Ortsvereinen und bei den Mitgliedern geben würde – und obwohl die Bayern-SPD eine Entscheidung zwischen 19. Oktober und 30. November empfiehlt.

Florian Post (r, SPD) und der ehemalige Außenminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel (SPD) unterhalten sich zu Beginn der Sitzung der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.
Florian Post (r, SPD) und der ehemalige Außenminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel (SPD) unterhalten sich zu Beginn der Sitzung der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.

© picture alliance/dpa

Die Vorgeschichte des Nahles' Sturzes

Natürlich hat die Kandidatur noch eine andere Note: Sigl-Glöckner ist Büroleiterin von Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt, einem engen Vertrauten von Vizekanzler Olaf Scholz. Dieser stand lange an Nahles’ Seite, mithin mutmaßen einige, die Kandidatur sei der Versuch, den Rebellen Post auszubooten.

Die Ökonomin, die mit 16 nach England ging, dort den Schulabschluss machte und dann Philosophie, Politik und Volkswirtschaft in Oxford und Informatik am Imperial College in London studierte, hat auch die Denkfabrik Dezernat Zukunft gegründet. Diese will eine werteorientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik aus den universitären Zirkeln in die Breite der Gesellschaft tragen. Von „Forbes“ wurde sie in die Liste der „30 unter 30“ im Bereich Finanzen aufgenommen.

Ihr geht es um eine Finanzpolitik, die mehr Schulden aufnimmt. Gibt es für sie da Grenzen? „Wenn wir in eine Inflation reinrennen.“ Sie sieht Schuldenlasten nicht als Bürde für ihre Generation, sondern bei sehr niedrigen Zinsen für deutsche Staatsanleihen als Chance, um etwa mehr bezahlbare Wohnungen zu schaffen und in Klimaschutz zu investieren.

Der Wahlkreis ist gespalten, zum einen Akademiker, die oft grün wählen, dann viele Arbeiter und Flüchtlinge. Ihr Ziel: ihn anders als Post direkt zu gewinnen. Es ist auch die einzige Chance, da sie nicht mit einer Listenabsicherung rechnen kann. Die Sonne scheint, Sigl-Glöckner ist jetzt nur noch selten in Berlin, sie konzentriert sich auf die Arbeit vor Ort in München, erst mit vielen virtuellen Veranstaltungen wegen Corona, nun auch mit mehr persönlichen Begegnungen.

Vom Garten des Finanzministeriums blickt man auf den von Ernst Sagebiel erbauten Koloss der Nationalsozialisten. Auf die Frage nach der Länge der Flure, hat Sigl-Glöckner die Antwort parat: 6,8 Kilometer. Zahlen sind ihr Metier. Sie staunt, was an investiver Politik durch den Corona-Schock möglich ist.

Post studierte in der Heimat BWL, arbeitete bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC und den Münchener Stadtwerken – und kämpft vor allem für Mieterschutz und bezahlbares Wohnen. Sie kommt aus München, hatte aber zuletzt den Lebensmittelpunkt in Berlin, ihre Eltern wohnen noch vor Ort.

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Sie ist global vernetzt, er machte die Ochsentour

Ihr Arbeitsleben führte sie bereits zu einer deutschen Handelsfirma in Phnom Penh, zu einer Unternehmensberatung nach London, zur Weltbank nach Washington und in Liberias Finanzministerium. Sie wollte die Privatwirtschaft kennenlernen, um sie verändern zu können. Sie verkörpert aber eher den Typus Akademikerin mit globaler Karriere – das ist die Frage, wie sie an der Basis ankommt, Post dagegen ist seit Jahren viel an der Basis unterwegs, gibt den Kümmerer, das ist auch das Pfund, mit dem er im internen Wahlkampf wuchern kann. Es gibt auch noch einen dritten Kandidaten, den Kommunikationswissenschaftler Bernhard Goodwin. Er war bei der letzten Bundestagswahl noch in einem anderen Wahlkreis angetreten - in dem Dreikampf werden ihm bisher kaum Chancen eingeräumt.

Nachteil Berlin?

Sigl-Glöckner wird vor allem mit dem Problem zu kämpfen haben, dass sie von außen, aus Berlin kommt. Sie glaubt an die Kraft der Argumente, jenseits der üblichen SPD-Themen steht sie für eine Abkehr von früheren Derregulierungspraktiken, die der SPD zu rot-grünen Zeiten viel Glaubwürdigkeit gekostet haben. Sie pocht auf ein "der Realwirtschaft dienendes Finanzsystem inklusive Zentralbank und privatem Finanzsektor, das weder selbstbezogen noch selbstbereichernd handelt". Schon der Kampf um den Parteivorsitz zeigte, es fehlt an Frauen, die frischen Wind reinbringen, so wie der SPD ebenso Erfahrungen aus Arbeitermilieus fehlen, was die Entkopplung von den Wählern befördert. Sigl-Glöckner betont nun bewusst ihre sozialdemokratischen Wurzeln in der bayerischen Heimat: "Mein Vorfahr Ferdinand von Miller war Erzgießer in München und schuf die jedem Wiesngänger bekannte Bavaria. Mein Großvater Johann Christoph Ottow half als Architekt und Stadtplaner mit, den sozialen Wohnungsbau voranzubringen."

Man könne nur aufbrechen, "wenn man weiß, wo man hin will", sagt sie über die Schwäche der SPD gerade in Bayern. Fast nirgends sind die Kompetenzwerte der SPD so schlecht wie im Bereich Ökonomie. Verliert Sigl-Glöckner, will sie die Arbeit des Dezernats Zukunft bundesweit ausbauen. Sie träumt nicht vom Sozialismus, sondern will den Kapitalismus einhegen, Spaltungen verringern. Der heterogene Wahlkreis München-Nord mit Globalisierungsgewinnern und -verlierern könnte die Blaupause dafür sein. „Das sind gerade die Gruppen, die wir als SPD wieder zusammenbringen müssen.“

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