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Politik: Brokdorf wird Geschichte

Atomkraftgegner und Polizisten reden gemeinsam über den Protest – Grüne suchen Form der Erinnerung

In Tagen, in denen Spitzenkräfte der Grünen sich von Teilen der Protestbewegung lossagen, verabredeten sich die Partei und Atomkraftgegner aus der Wilstermarsch, um den Widerstand aus den 70er und 80er Jahren rund um Brokdorf Revue passieren zu lassen – und gemeinsam mit Polizeibeamten zu bewerten. Heraus kam Geschichtsunterricht mit Zeitzeugen, wie er in keinem Lehrbuch zu finden ist. Und genau darum ging es Grietje Bettin, Jahrgang 1975, Bundestagsabgeordnete der Grünen, die eingeladen hatte. Sie selbst kennt die Geschehnisse nur aus Erzählungen und fordert nun, dauerhaft an den Protest zu erinnern: „Das könnte ein Spazierweg mit Infotafeln sein oder aber eine andere Art von Dokumentation. Hauptsache, es wird konkret“, sagt Bettin. Sollte dies für Brokdorf klappen, ist angedacht, auch für Wackersdorf, Wyhl und Gorleben so zu verfahren – ebenso Orte, wo es erbitterte „Schlachten“ zwischen Kernenergiegegnern und Polizei gab und in letzterem Falle bis heute gibt. Innerparteilich wird Bettins Idee für gut befunden – schließlich begibt sich die Partei damit zu ihren Wurzeln. Doch gibt es Widerstände dagegen, das Ganze als „Gedenkstätte“ oder „Mahnmal“ zu bezeichnen.

1973 hatte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Stoltenberg den Bau des Brokdorfer Atommeilers verkündet. Fortan änderte sich das Leben der Menschen vor Ort. Bauerntochter Silke Dibbern-Voß, eine Grüne der ersten Stunde, erinnerte sich noch genau an die Ereignisse: „Wir lebten spätestens seit Errichtung des Brokdorfer Bauzauns 1976 täglich in einem zehnjährigen Ausnahmezustand.“ Und sie berichtet von ihrer damaligen Radikalität, die die Kernenergiedebatte zur Glaubensfrage machte: „Ich habe die Menschen nur noch eingeteilt, ob sie dafür oder dagegen sind.“ Und sie hat natürlich alle Großdemonstrationen mitgemacht. Auf der „anderen Seite“ war Bauernsohn Manfred Börner dienstlich tätig, in Polizeiuniform. Er befand sich gerade unmittelbar vor Ende seiner Ausbildungszeit und war abkommandiert zur Bauplatzsicherung. Eine Situation vergisst er bis heute nicht: „Wir sollten einem brennenden Wasserwerfer zu Hilfe kommen. Flaschen flogen uns in Kopfhöhe um die Ohren, mit Latten wurde nach uns geschlagen. Da habe ich zum Selbstschutz auch von meinem Polizeiknüppel Gebrauch gemacht; ich hatte Angst um mein Leben“, sagt der heutige stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP). In Wilster gaben sich Dibbern-Voß und Börner jetzt die Hand.

Aus den Brokdorf-Einsätzen seien Lehren gezogen worden, sagt Börner: „Vor Heiligendamm setzt sich die Polizei jetzt sogar mit Attac an einen Tisch.“ Und die AKW-Gegner, wie bewerten sie die Vorgänge heute? Einigkeit gibt es nicht. Die einen sagen, die Proteste waren erfolgreich, denn nach Brokdorf wurde in Deutschland kein Kernkraftwerk mehr gebaut. Andere sehen den Widerstand als gescheitert an, denn der Meiler ist seit Oktober 1986 in Betrieb. Inzwischen wurde dort sogar ein Zwischenlager eingerichtet, in dem schon die ersten Castoren stehen.

Dieter Hanisch[Wilster]

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