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Politik: Brüsseler Alltag, europäische Wirklichkeit

Wien übernimmt die EU-Präsidentschaft von London – aber was wird aus der EU-Verfassung?

Zum normalen Geschäft in der Europäischen Union (EU) gehört es, wenn sich die EU-Finanzminister im Januar erneut mit einem Thema wie den „verringerten Mehrwertsteuersätzen“ beschäftigen. Frankreich will sie (unter anderem für seine Restaurants), Deutschland will sie nicht. Beim letzten EU-Gipfel gab es in diesem Punkt keine Einigung, also lautet der Beschluss: Wiedervorlage. Europäischer Alltag eben.

Zum normalen EU-Geschäft gehört es auch, dass alle sechs Monate die EU-Präsidentschaft wechselt. Mit dem Jahreswechsel übergibt also der britische Premierminister Tony Blair den Stab an seinen österreichischen Amtskollegen Wolfgang Schüssel. Der Wiener Regierungschef bekommt damit all die Dossiers auf den Tisch, die den Brüsseler Alltag prägen: Der Kompromiss im EU-Haushaltsstreit, der Blair gewissermaßen noch in letzter Minute seiner EU-Präsidentschaft gelang, muss jetzt noch durch das Europaparlament. Dort steht im Februar auch die erste Lesung der Dienstleistungsrichtlinie an, mit deren Hilfe ein Ausgleich zwischen Sozialdumping und Wettbewerbsfähigkeit geschaffen werden soll. Hinzu kommen die Schwerpunkte, die sich die österreichische EU-Präsidentschaft selbst gesetzt hat – unter anderem die weitere Heranführung der Balkan-Staaten an die Europäische Union.

Doch der Eindruck, die EU funktioniere wie eine lautlose, gut geölte Maschine, spiegelt nur einen Teil der europäischen Wirklichkeit am Ende des Jahres 2005 wider. Nachdem die Bevölkerung in Frankreich und in den Niederlanden im vergangenen Frühjahr die EU-Verfassung ablehnte, gehört die Debatte um die Zukunft der EU zu den schwierigsten Punkten im kommenden Halbjahr. „Kurzfristig ist die Zukunft des Verfassungsvertrages eines der heikelsten Themen für die österreichische Präsidentschaft“, sagte die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Am 10. Januar will sie in Paris und am Tag danach in Den Haag sondieren, wie es nach dem doppelten Nein zur EU-Verfassung weitergehen kann. Die französische Zeitung „Le Monde“ ist allerdings von einer Neuauflage der Verfassungsdebatte wenig begeistert: „Die Europäische Union steht vor dringenderen Aufgaben, als sich von Neuem in eine Verfassungsdiskussion zu vertiefen“, kommentierte das Blatt am Freitag.

An diesem Samstag geht auch Blairs letzte EU-Präsidentschaft zu Ende. Schließlich wird allgemein erwartet, dass der britische Premier noch während der Legislaturperiode abtritt. Damit ist es auch Zeit für eine erste Bilanz seiner Europapolitik. Von seinem Plan, Großbritannien ins „Herz Europas“ zu führen, scheint am Ende von Blairs Amtszeit nicht viel übrig. Wenn man die zurückliegenden sechs Monate aber nüchtern betrachtet, fällt die Bilanz der britischen EU-Präsidentschaft gar nicht so schlecht aus. Britische Diplomaten rasseln eine Liste der Erfolge herunter: Die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und mit Kroatien, die Chemikalienrichtlinie Reach, die starke Vertretung der EU-Interessen bei den Klimaverhandlungen in Montreal gehören dazu. „Kompetent, aber nicht inspirierend“, schreibt der britische Think Tank „Chatham House“ in seinem Urteil über die britische EU-Präsidentschaft und wertet es als schwerstes Versäumnis, dass es Blair nicht gelang, den Schwerpunkt auf die Wirtschaftsreformen innerhalb der EU zu legen. Doch dies zeige vor allem die Unmöglichkeit, in einer nur sechs Monate langen Präsidentschaft echte Veränderungsprozesse einzuleiten.

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