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Buchrezension: Falldruck

Nach Kevin und Lea-Sophie: Der Soziologe Kay Biesel erforscht die Arbeit von Jugendämtern.

Von Caroline Fetscher

Ein neuer Modus der Zeitrechnung hat sich in der Alltagssprache von Kinderschützern eingebürgert. „Das war noch vor Kevin“, heißt es zum Beispiel, und „das wurde nach Lea-Sophie geändert“, oder „das soll wegen Chantal eingeführt werden“. Bezugspunkte sind gescheiterte Kinderschutzfälle: Der zwei Jahre alte Junge Kevin, der im Oktober 2006 in Bremen im Kühlschrank seines Vaters gefunden wurde, die fünfjährige Lea-Sophie, die November 2007 im Schweriner Elternhaus verhungert und verdurstet ist, die elfjährige Chantal, die im Januar 2012 in Hamburg in der Obhut von Pflegeeltern an deren Ersatzdrogen starb. Pro Woche kommt es in Deutschland durchschnittlich zu drei Kindstötungen. Für die Öffentlichkeit aber haben die zitierten Fälle besonderen Skandalcharakter, denn sie ereigneten sich allesamt unter den Augen des Jugendamtes. „Wir sind immer die Buhmänner, die Sündenböcke“, klagen dessen Mitarbeiter. Wie aber kann es dazu kommen, dass so gravierende, tragische, tödliche Fehler geschehen? Welche Fehlerkultur müsste es geben, damit solche Desaster vermieden werden? Solche Fragen stellt Kay Biesel, Professor am Institut für Kinder- und Jugendhilfe der Basler Hochschule für Soziale Arbeit. Für die Forschung zu seiner Dissertation an der FU Berlin machte sich Biesel auf den Weg in die Ämter selbst. Mit den Jugendämtern Schwerin sowie Dormagen suchte sich Biesel zwei Pole des Geschehens aus: Schwerin als Ort schweren Scheiterns, und Dormagen, seit 2005 viel gepriesenes Modell gelingender Arbeit im Kinderschutz. Biesel geht es darum, jenseits eines „skandalgetränkten Anklagesogs“ systematisch und strukturiert zu untersuchen, was fehlt. In der akribischen, ruhigen Studie zählt Niklas Luhmanns Systemtheorie zu den wegweisenden Begleitern des jungen Forschers, der historisch beginnt, methodisch erklärt und schließlich seine Fälle – die Jugendämter – mit anonymisierten Interviews im Detail analysiert. Das Soziale, lautet ein Teil von Kay Biesels Befund, werde gerade „neu erfunden“, sämtliche sozialen Institutionen befinden sich im Umbruch. Bei der breiten Bevölkerung besitzt eine Behörde wie das Jugendamt bis heute einen gefährlichen Klang. „Da rufen wir das Jugendamt an!“ ist die ultimative Drohung von Nachbarn, Verwandten, Kitaerziehern oder Lehrern. Beschämender, beschuldigender wirkt kaum etwas anderes auf jene „Personensorgeberechtigen“, denen ihr Familienleben entgleitet. Da herrscht sofort Angst um Ruf und Selbstwert. Ähnlich ist paradoxerweise die Angst in den Ämtern selber, wo die Kinderschützer oft sich in erster Linie zu schützen suchen – vor Vorwürfen aus der Öffentlichkeit oder gar vor dem Staatsanwalt, der ihnen unterlassene Hilfeleistung zur Last legen könnte. Anders als etwa beim Bauamt oder Verkehrsamt sind die Aufgabenbereiche der Jugendämter schwammig definiert. Dazu kommen die oft beklagten Faktoren „Falldruck“ und „Zeitdruck“ – zu viele Fälle bei zu wenig Zeit und zu geringem Budget. In Schwerin war der „Falldruck“ zur Zeit des Todes von Lea-Sophie derart hoch, dass viele Krankmeldungen und eine erratische Organisation zu Überlastung führten – nicht anders als in den Familien, denen geholfen werden soll. Kay Biesel, gelernter Sozialarbeiter, erlebte den Typus des „engagierten Verzweifelten“, die Cliquenbilder oder Einzelkämpfer, er hörte von der Scheu, über Fehler offen zu sprechen. Fatale Fälle werden nicht systematisch erfasst, schwere Fälle nur ansatzweise untersucht, die Kooperation mit den „Freien Trägern“ der Jugendhilfe ist mangelhaft, der eigenständige Handlungsraum oft eng. Vom veralteten Konzept der „reaktiven Devianzkontrolle“, die am Einzelfall orientiert ist, führt der Weg guten Strukturwandels zur präventiven, multiprofessionellen Netzwerkarbeit, der es nicht um die Stigmatisierung der betroffenen Familie geht, sondern um das Wohl des Gesamten, um Kinder, Eltern und Gesellschaft. Diesen Ansatz verfolgt die Stadt Dormagen erfolgreich: die ganze Stadt steht hinter dem „Dormagener Modell“, Bürgermeister, Behörden, die Bürger selber. Mit einer erklärten Haltung des Willkommenheißens will Dormagen allen Familien Zugang zu Hilfen, Informationen, guten Begegnungen mit der Stadt verschaffen. In Dormagen wird im Amt oft gelacht oder gelächelt, fiel Biesel auf, man ist dort stolz auf die eigene Arbeit, bekennt sich eher zu Fehlern als anderswo und erkennt den Sinn des Ganzen: Eine im Vorfeld agierende Organisation zum Kinderschutz. Heikel kann es allerdings werden, wenn die Teams so freundschaftlich werden, dass aus Rücksicht auf Kritik verzichtet wird. Gleichwohl: Dormagen ist aus Biesels Sicht der Wegweiser aus dem akuten, massiven Dilemma eines oft dysfunktionalen Kinderschutzes. Beim Lesen dieser Studie wird überdeutlich, welche Fragen die „sich öffentlich entladende, mechanische Solidarität“ (Biesel) mit den getöteten Kindern jeweils auslässt, ignoriert oder umschifft. Das öffentliche Nachdenken über die Jugendämter und deren Rolle, Wertschätzung, Ausstattung muss ein anderes Niveau erreichen. Dafür ist Kay Biesels Studie ein guter Beweis.

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