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Jürgen Dusel wurde erneut zum Bundesbeauftragten ernannt.

© dpa/Wolfgang Kumm

Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen: „Nicht kleckern, sondern klotzen“

Bei der Umsetzung der Inklusion gibt es laut Jürgen Dusel noch viel zu tun. Sein Appell: Inklusion sei eine Querschnittsaufgabe, die alle angehe.

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. So steht es in Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Tatsächlich dürfte es bis dahin jedoch noch ein weiter Weg sein.

So klang es zumindest, als Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, knapp vier Wochen nach seiner erneuten Ernennung am Dienstag in Berlin die Themen vorstellte, die er in der laufenden Legislaturperiode im Schwerpunkt bearbeiten will.

Mit dem Leitspruch der Ampelkoalition „Mehr Fortschritt wagen“, zeigte er sich sehr zufrieden, wandte jedoch ein , dass Fortschritt für alle nur dann einlösbar sei, wenn er inklusiv sei. „Das bedeutet auch Teilhabe für Menschen, die nicht sichtbar sind.“

Demokratie braucht Inklusion

Es sei besonders wichtig, seine Arbeit als ressortübergreifende Tätigkeit zu begreifen: „Gute Politik für Menschen mit Behinderungen ist eine Querschnittsaufgabe, die alle Lebensfelder und damit alle Ressorts betrifft. Das ist auch, aber nicht nur Sozialpolitik. Demokratie braucht Inklusion.“

In Deutschland leben dreizehn Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Acht Millionen von ihnen sind schwer behindert. Doch nur drei Prozent dieser Menschen werden mit ihrer Behinderung bereits geboren. Ein Aspekt, der laut Dusel in der Gesellschaft oft untergehe. „Wenn es um das Thema Inklusion geht, dann sagen ganz viele Menschen, ach ja prima, die Kinder sollen zusammen lernen. Aber das ist nur ein ganz kleiner Teil der Inklusion, die es umzusetzen gilt.“ Mit Inklusion in der Bildung sei einem Großteil der Menschen mit Behinderung nicht geholfen, denn in ihrer Schulzeit seien sie selbst noch nicht betroffen gewesen.

„In den allermeisten Fällen wird eine Behinderung im Laufe des Lebens erworben, durch einen Schicksalsschlag, einen Unfall eine Krankheit.“ So lebt in Deutschland jeder vierte Mensch über 65 mit einer Schwerbehinderung.

Jeder vierte Mensch über 65 lebt mit einer Schwerbehinderung.

Als Schwerpunkte seiner Arbeit für die laufende Legislaturperiode nannte Dusel sechs Themenfelder: Wohnen, Mobilität, Gesundheit, Familien mit chronisch kranken und schwerbehinderten Kindern, Gewaltschutz und Arbeit.

Zum Thema Wohnen fordert er, dass es keine einzige öffentliche geförderte Wohnung mehr geben dürfe, die nicht barrierefrei sei. Auch im privaten Sektor müsse deutlich mehr barrierefrei gebaut werden. „Es macht keinen Sinn Wohnungen zu bauen die Barrieren beinhalten, wer das tut ist unprofessionell.“

Verschiedene Studien zeigten, dass barrierefreies Bauen langfristig und auch volkswirtschaftlich betrachtet deutlich die Sozialleistungsträger entlaste, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels.

„Die Mehrkosten bei einem Neubau sind nur marginal, vor allem, wenn man mit einbezieht, dass Menschen dann deutlich länger in den Wohnungen bleiben.“ Dusel ärgert sich über das negative Image des Ausdrucks Barrierefreiheit. „Barrierefrei zu sein, das ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land, das sollte cool und von allen gewollt sein.“

Der Jurist bemängelte außerdem, dass es sowohl im Öffentlichen Personennahverkehr als auch bei der Deutschen Bahn und privaten Anbietern immer noch große Einschränkungen für Menschen mit Behinderungen gebe.

„Wir müssen hier endlich die rechtlichen Rahmenbedingungen umsetzen.“

Beispiele sind der oft unflexible Mobilitätsservice der Deutschen Bahn, fehlende Blindenleitsysteme, Lautsprecherdurchsagen, visuelle Informationen, fehlende Informationen in Leichter Sprache.

„Wir müssen hier endlich die rechtlichen Rahmenbedingungen umsetzen.“ Das sei kein nice to have, sondern jeder Mensch habe einen Anspruch darauf, von A nach B zu kommen.

„Stellen Sie sich eins vor: Sie sind auf Gebärdensprache angewiesen, Deutsch ist nicht Ihre Muttersprache, Sie wollen zu Ihrem Zug kommen, es gibt einen Gleiswechsel und eine Äderung der Wagenreihung. Was für Sie jetzt klingt wie ein Albtraum, ist für ganz viele Menschen in Deutschland jeden Tag Realität.“

Bei Beibehaltung der bisherigen Förderprogramme brauche es noch rund 30 Jahre, bis alle Bahnhöfe in Deutschland barrierefrei seien. „Das ist nicht hinnehmbar.“

Auch das deutsche Gesundheitssystem ist noch lange nicht barrierefrei. Das betrifft nicht nur bauliche Barrieren, sondern es geht auch um nicht barrierefreie Webseiten, fehlende Informationen in Leichter Sprache, Gebärdensprache und vernünftige Blindenleitsysteme.

Die Bundesregierung hat sich einen Aktionsplan für ein inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen vorgenommen, der bis Ende des Jahres stehen soll.

Für Familien mit chronisch kranken und schwerstbehinderten Kindern wünscht sich Jürgen Dusel niedrigschwelligere und unbürokratische Möglichkeiten, die gesetzlichen Leistungsansprüche durchsetzen zu können. „Es ist unglaublich, mit wie vielen Leistungsträgern sich Eltern in solchen Fällen auseinandersetzen müssen. Das müssen wir ihnen erleichtern.“

Menschen mit Behinderung deutlich öfter Opfer von Gewalt

Besonders betroffen ist Jürgen Dusel darüber, dass Menschen mit Behinderung deutlich öfter Opfer von Gewalt sind als Menschen ohne Behinderung. Frauen mit Behinderung werden sogar zwei bis dreimal öfter Opfer sexualisierter Gewalt als Frauen ohne Behinderung. 200.000 Menschen mit Behinderungen leben in Einrichtungen, 300.0000 arbeiten in Werkstätten. „Diese Orte sollen Räume des Schutzes sein. Dass Menschen ausgerechnet nicht nur, aber auch dort Gewalterfahrungen machen, ist untragbar.“

Um Menschen mit Beeinträchtigungen vor physischen, psychischen oder sexuellen Übergriffen zu schützen, hat die neue Regierungskoalition eine ressortübergreifende politische Strategie gegen Gewalt geplant.

Zuletzt gebe es beim Thema Arbeit noch eine Menge zu tun. So lag die Zahl der Langzeitarbeitslosen bei schwerbehinderten Menschen 2021 bei rund 47 Prozent, die allgemeine Langzeitarbeitslosenquote dagegen nur bei rund 39 Prozent.

Die Arbeitslosenzahl ist seit Beginn der Pandemie gestiegen

Auch die Corona-Pandemie zeigt: Die Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderungen erholt sich langsamer als für Menschen ohne Behinderungen. 2021 waren im Durchschnitt 172.484 Menschen mit Behinderung arbeitslos – erneut mehr als im Vorjahr. Das sind 11,5 Prozent mehr Arbeitslose mit Behinderungen als im Vergleichszeitraum vor der Pandemie im Jahr 2019.

Diese Zahlen seien insbesondere dramatisch, da die Menschen mit Behinderungen im Vergleich oft besser qualifiziert seien, erklärte Dusel. „Dazu kommt der meist schlechtere Verdienst. Das kann alles nicht sein in einer der reichsten und innovationsfähigsten Gesellschaften Europas.“

Um mehr Menschen mit Behinderung in Beschäftigung zu bringen, fordert Dusel, dass in dieser Legislatur die Ausgleichsabgabe auf 750 Euro erhöht und eine vierte Stufe eingeführt wird - für die Unternehmen, die keinen einzigen Menschen mit Behinderung einstellen. Immerhin ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen.

Dusel selbst ist auf einer Regelschule gewesen und ist sich sicher: „Die Leute, die mit mir in die Schule gegangen sind, wissen, dass es funktioniert und stellen auch Menschen mit Behinderungen ein.“ Auch deshalb seien gemeinsame Schulen wichtig.

Ein Langzeitziel von Jürgen Dusel: Mit seinen Themen endlich herauszukommen aus dem netten, betulichen Fürsorgebereich. „Es geht hier nicht um Mildtätigkeit, wir machen hier was für Behinderte. Sondern um die Umsetzung fundamentaler Grundrechte. Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und die haben alle die gleichen Rechte.“

Jürgen Dusel bezog eindeutig Stellung für die einrichtungsbezogene Impfpflicht, erklärte aber auch, dass dieses sensible Thema sich nicht für Parteipolitik eigne.

„Die hochvulnerablen Gruppen können sich nicht aussuchen, wer sie pflegt. Jetzt geht es darum, so viele Menschen wie möglich zu impfen bei gleichzeitiger Sicherstellung der Versorgung.“

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