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Politik: Bundeskriminalamt debattierte über strafrechtliche Folgen des europäischen Zusammenwachsens

Kriminalistisch und juristisch gesehen weist die Weltkarte viele weiße Flecken auf. Zum Beispiel diese: In einem Staat ergeht der Gerichtsbeschluss, dass zwei Schweizer Betrüger hochgradiger Effizienz nicht nach Deutschland ausgeliefert werden, obwohl sie dort einen gigantischen Betrug mit 115 Millionen Mark Schaden zu verantworten haben.

Kriminalistisch und juristisch gesehen weist die Weltkarte viele weiße Flecken auf. Zum Beispiel diese: In einem Staat ergeht der Gerichtsbeschluss, dass zwei Schweizer Betrüger hochgradiger Effizienz nicht nach Deutschland ausgeliefert werden, obwohl sie dort einen gigantischen Betrug mit 115 Millionen Mark Schaden zu verantworten haben. Dieser Staat liegt nicht irgendwo zwischen den Anden eingeklemmt, noch heißt er Moldawien. Ein Gericht unseres kleinen, aber wenig feinen Nachbarstaates, der Geldwasch-Oase Liechtenstein, verweigert die Auslieferung. Es gibt es also tatsächlich, das Asyl für Wirtschaftsflüchtlinge. Mitten in Europa.

Das ist ein krasser Fall, den der ansonsten bedächtige Richter am Bundesgerichtshof (BGH), Wolfgang Schomburg, zum Besten gab - während einer Tagung mit 300 Experten aus Europa zum Thema "Verbrechensbekämpfung im zusammenwachsenden Europa" im BKA-Hauptquartier in Wiesbaden. Und ob sie nun Jürgen Storbeck heißen, Direktor von Europol in Den Haag, oder Rayon Kendall, Generalsekretär von Interpol in Lyon, ob es der Staatssekretär im Innenministerium Claus-Henning Schapper ist oder auch der Professor vom Max-Planck-Institut in Freiburg, Hans-Jörg Albrecht: Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen polizeilicher Ermittlungsarbeit und juristischer Absicherung ist bei allen Fortschritten - durch den Schengener und Amsterdamer Vertrag und die Erklärungen von Tampere in jedem Vortrag mit Händen zu greifen. Nationale Souveränitätsrechte, ordnungspolitisches Wirrwarr, zwischenstaatliches Misstrauen oder schlicht und einfach noch unvereinbare und nur schwer harmonisierbare Rechtssysteme: Die Zusammenarbeit in Europa lässt so viele Wünsche offen, dass nicht einmal ein ganzes Bataillon politischer Weihnachtsmänner allen Forderungen nachkommen könnte. In Europa wächst in rechtsstaatlicher Sicht noch lange nicht zusammen, was zusammengehört.

Ganz hinten am europäischen Geleitzug bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens oder der grenzüberschreitenden Kriminalität zuckelt die Justiz, oder wie es ein Redner in brillant-schneidiger Metapher formulierte: die einen (Verbrecher) nehmen das Überschalljet, die Nächsten (Polizei) den Ferrari und die Dritten sind gerade erst im Begriff, die Postkutsche zu besteigen. Das sind die Juristen, die eigentlich den durch Europa rasenden Polizisten allerhand Stoppschilder oder Vorfahrtsregelungen aufstellen müßten. "In absehbarer Zeit wird es für die EU kein einheitliches oder vereinheitlichtes Strafrecht oder Strafverfahrensrecht geben. Eine europäische Staatsanwaltschaft und ein Europäischer Gerichtshof sind in absehbarer Zeit nicht realisierbar." Was Wolfgang Schomburg hier kurz und trocken beschrieb, nämlich die noch zu bewältigende Aufgabe, "ein unfruchtbares Gegeneinander von Justiz und Polizei zu vermeiden", hatte sein juristischer Kollege Hans-Jörg Albrecht eine Stufe tiefer, näher an der nationalen Gegenwart angesiedelt. Hoch vom Gelben Wagen herab sagte er: "Schon die traditionelle, nationale Kontrolle der Polizei durch die Justiz funktioniert nicht mehr richtig. Das wird sich auf europäischer Ebene noch verstärken." Und der Ferrari, das wurde auch klar, wird beim Boxenstopp nicht extra warten, bis die Pferde der Postkutsche eingespannt sind.

Europas Polizei, also die einzelstaatlichen Polizeibehörden in Zusammenarbeit und die Datenanalysten von Europa in Den Haag, die mindestens fünf weitere Jahre nicht selbst ermitteln dürfen, die weltweit agierenden Kollegen von Interpol und einige mehr kämpfen mithin nicht nur gegen die Drogen- und Menschenhändler, die politischen Extremisten und notorischen Wirtschaftsverbrecher - sie liegen im Clinch mit den recht klapprigen Amtsschimmeln, dem noch ungelichteten Paragraphenwald und natürlich dem einzelstaatlichen Pochen auf die nationalen Hoheitsrechte - die vom Einstimmigkeitsprinzip auf Euro-Ebene gut geschützt werden.

Dabei sprechen die Daten, die auf verschiedenster nationaler und internationaler Ebene erhoben werden, eine deutliche Sprache. Sie schreien nach justizieller Action: So das Schengen Information System (SAS), indem bereits 9,6 Millionen Fahndungsdaten gespeichert sind, darunter 10 000 personenbezogen Daten im Zusammenhang mit zur Fahndung ausgeschriebenen Straftätern, und auch 750 000 Daten über Personen, die der eine oder andere Staat in Europa partout nicht einreisen lassen will. Über dieses SIS-System konnte Deutschland in Europa 8500 "Fahndungstreffer" landen und die Schengen-Mitglieder in Deutschland 4800. Hält man sich vor Augen, dass Experten glauben, dass bis zu 90 (!) Prozent der nationalen Fahndungsdaten gar nicht erst in das SIS-System gelangen, kann man erahnen, wie hoch die Zahl der frei flottierenden Straftäter in Europa ist und wie sehr die Strafverfolgung hier Änderungsdruck verspürt. Natürlich stehen die Deutschen stramm und gehobenen Hauptes in der ersten Reihe, wenn es darum geht, den Ferrari mit einem Piloten mit schwarz-rot-goldenem Overall zu besetzen. In der Tat drücken die Deutschen, besonders bei der polizeilichen Zusammenarbeit, mittlerweile auch bei der Justiz, und zunehmend bei der Aufgabe nationaler Souveränität aufs Tempo. Aber sie wissen: Auch hier gibt letztlich der Mann mit dem Ersatzreifen das Tempo an.

Rüdiger Scheidges

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