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Angela Merkel stimmte selbst gegen die Ehe für alle - und erklärte sich anschließend.

© Michael Kappeler/dpa

Bundestag beschließt Ehe für alle: Merkels geheimer Plan - eine Spekulation

Angela Merkel hat sich mit der Gewissensentscheidung kräftig verkalkuliert. Es könnte aber auch anders gewesen sein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Auf der Oberfläche ist das zu sehen: Jubel bei Grünen, Linken und den Genossen von der SPD. In einer historischen Abstimmung wurde die "Ehe für alle" beschlossen. 393 Ja-Stimmen gegen 226 Nein-Stimmen. Ein großer Tag. Zerknirschung dagegen bei großen Teilen der Unionsfraktion. Besonders Angela Merkel steht belämmert da. Sie selbst ist gegen die "Ehe für alle", hat die Abstimmung darüber aber erst ermöglicht, indem sie das Thema zu einer Gewissensentscheidung machte. Damit wollte sie es aus dem Wahlkampf heraus halten - und hat sich kräftig verkalkuliert. Zur Strafe wurde ihr jetzt eine Nase gedreht, die länger ist als die von Pinocchio. Wer den Hohn auf sich zieht, muss für den Spott nicht mehr sorgen.

Aber vielleicht, ganz vielleicht – und vom Ende her gedacht – ist das alles ganz anders. Vielleicht, ganz vielleicht hat die Kanzlerin einen Plan verfolgt, der bis an die Grenzen des Diabolischen genial ist. Vielleicht, ganz vielleicht hat sie die letzte Möglichkeit ergriffen, die "Ehe für alle" zu verhindern. Die Schule des Skeptizismus gebietet, diese Mini-Wahrscheinlichkeit zumindest einmal erwogen zu haben.

Wie war die Lage vor einer Woche, also vor dem inzwischen legendären Brigitte-Interview? Alle möglichen Koalitionspartner Merkels nach der nächsten Bundestagswahl – FDP, Grüne, SPD – hatten die "Ehe für alle" zur conditio sine qua non erklärt, einer notwendigen Bedingung. Besonders für die Grünen war dies ein identitätsstiftendes Merkmal. Ohne die Ehe für alle hätten sie sich einer schwarz-grünen Koalition verweigern müssen.

Bitter für Merkel, aber unausweichlich

Für Merkel und aus ihrer Sicht war also klar: Diese Kröte würde sie schlucken müssen, um an der Macht zu bleiben. Bitter für sie, aber unausweichlich. Weil vom Mindestlohn über den Atomausstieg bis zur Wehrpflicht ohnehin kein Symbol mehr übrig ist, das als gewichtige Verhandlungsmasse für Koalitionsgespräche taugt, wäre die "Ehe für alle" das letzte gewesen, was mögliche Regierungspartner von der Kanzlerin hätten fordern können. Politisch stand Merkel in dieser Frage auf verlorenem Posten.

Daher musste sie versuchen, das Thema zunächst aus dem Raum des politisch Verhandelbaren herauszunehmen. Gewissensentscheidung! So hieß das Zauberwort. Denn eine Gewissensentscheidung ist unumkehrbar. Was allein dem Gewissen überantwortet wird, lässt sich nicht mehr in eine Parteiräson einbinden. Gewissensentscheidung bleibt Gewissensentscheidung.

Dieser Schritt wurde allseits begrüßt und führte – hopplahopp – zur heutigen Abstimmung. Deren Ergebnis stand fest. Aus Sicht der Union indes hat sich das Thema damit noch nicht erledigt. Ohne Änderung des Grundgesetzes geht es für sie nicht. Nach ständiger Rechtsprechung  des Bundesverfassungsgerichts umfasse Artikel 6 des Grundgesetzes die Ehe zwischen Mann und Frau, heißt es. Diese Rechtsauffassung könne durch ein einfaches Gesetz nicht außer Kraft gesetzt werden.

Zu demselben Ergebnis kommt der Verfassungsrechtler Jörn Ipsen in seiner Gutachtlichen Stellungnahme vom September 2015 zum „Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG“ für den Deutschen Bundestag. Darin heißt es: Als Kennzeichen des Ehebegriffs habe der Verfassungsgeber die Geschlechtsverschiedenheit der Ehepartner bestimmt. Dagegen könne nicht eingewendet werden, dass die Geschlechtsverschiedenheit nicht ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen worden sei. Der vom Verfassungsgeber vorausgesetzte Ehebegriff sei vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigt worden.

Das Thema wurde in den Bereich des Gewissens verlagert

Wörtlich heißt es weiter: „Würde ein (…) Wandel in den gesellschaftlichen Anschauungen allein ausreichen, um einen Wandel des Verfassungsrechts (…) zu bewirken, würde das Grundgesetz seine Gewähr für rechtliche Stabilität einbüßen und nahezu beliebiger Auslegung zugänglich sein.“

Für eine Änderung des Grundgesetzes bedarf es einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag. Ob die sich findet, ist äußerst ungewiss, wenn nicht gar höchst unwahrscheinlich, zumal in der kommenden Legislatur auch Abgeordnete der AfD im Parlament sein könnten. Eine Zweidrittel-Mehrheit gab es an diesem Freitag schon nicht.

Mit anderen Worten: Was politisch nicht zu gewinnen war, wurde von Merkel aus der Politik in den Bereich des Gewissens verlagert, damit das Ungewollte juristisch am Ende gekippt werden kann, ohne dass ein möglicher Koalitionspartner daran Anstoß nehmen kann.

Diabolisch genial? Vielleicht, ganz vielleicht. Merkel wurde schon oft unterschätzt, diesmal hat sie sich womöglich wirklich selbst ein Bein gestellt. Aber ein Restzweifel bleibt. Ein Mini-Restzweifel. Wir werden sehen.

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