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Der Plenarsaal im Reichstagsgebäude.

© imago/Jens Schicke

Bundestag: Ein Alterspräsident sollte auch die Autorität des Alters haben

Mit Blick auf die AfD wurden die Regeln für die Bundestagsalterspräsidenten geändert. Ernannt wird künftig nach Dienst- statt Lebensjahren. Schade! Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Wenn Norbert Lammert im Herbst aus dem Bundestag ausscheidet, dem er viele Jahre präsidierte, geht einer, der gerne etwas an- und andere auch mal vor den Kopf stößt. Seine Kanzlerin Angela Merkel zum Beispiel, die er für ihre unselige Atompolitik kritisierte, bevor die Katastrophe von Fukushima den Eingriff höherer Gewalt markierte. Er war es auch, der Abweichler vom politisch verordneten Eurorettungskurs gegen den Willen ihrer Fraktion im Parlament sprechen ließ. Und als ein bekannter grüner Abgeordneter wegen einer offiziell natürlich längst wieder vergessenen Drogensache an den Pranger geriet, schlug er vor, die Immunität der Mandatsträger doch besser gleich abzuschaffen, statt sie jedes Mal aufzuheben.

Letzteres mit besonders guten Gründen, denn der einst ehrenwerte Schutz gegen Übergriffe der Exekutive ist zur Förmelei geworden, die – was kein normaler Bürger fürchten muss – Mitwisser über Strafverfahren schafft, allen voran Lammert selbst, bei dem jeder Tatverdacht gemeldet wird. Dass sein Vorschlag keine Chance haben würde, wusste er und tat, was Politiker tun, wenn klar ist, dass sie scheitern. Sie vertrauen ihre Anliegen der Presse an.

Dafür geht nun eine andere parlamentarische Reform auf seine Initiative zurück: die Auswahl des Alterspräsidenten nach Mandatsjahren und nicht mehr wie bisher nach Lebensalter. Donnerstagabend hat der Bundestag sie in seiner längsten Sitzung der Legislaturperiode beschlossen. Geändert wird die Geschäftsordnung des hohen Hauses, nach der bisher das „an Jahren älteste“ Bundestagsmitglied in der ersten Sitzung den Vorsitz führt und die traditionelle Eröffnungsansprache hält.

Eine geänderte Geschäftsordnung - mehr nicht

Die nahezu einhellige Kritik daran besteht im Wesentlichen im Vorwurf, durch einen unsauberen Kniff einen betagten AfD-Abgeordneten am Reden hindern zu wollen, der mit der nächsten Wahl wahrscheinlich in den Bundestag kommen wird. Doch wirken derartige Reinlichkeitsansprüche an demokratische Organisationsprozesse überzogen. Das Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben, ist Ausdruck der Parlamentsautonomie, die im Rahmen der Verfassung bleiben, jedoch nicht ihre pluralistische Ethik ausbuchstabieren muss. In den Regularien des täglichen Parlamentsbetriebs, Stichwort Redezeiten, liegt immer eine Machtdimension, in der – wer sonst? – die Mehrheit und nur im Ausnahmefall auch mal der Präsident den Ton angibt.

Norbert Lammert hat dem Alter mit seinem Gesetz ein Schnippchen geschlagen.
Norbert Lammert hat dem Alter mit seinem Gesetz ein Schnippchen geschlagen.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Änderung ist daher nicht der Missbrauch, sondern der legitime Gebrauch von Autonomie. Er ist auch verdienstvoll. Der wohl aussichtsreichste Kandidat für den Posten wäre sonst ein Vertriebenenfunktionär gewesen, der einigen Aufwand unternimmt, Antisemitismusvorwürfe zurückzuweisen, für deren Anlass er in erheblicher Weise zumindest mitverantwortlich ist. Es muss nicht, es kann sein, dass ein solcher Redner seiner Hörerschaft vor Ort in Verlegenheiten bringt, auf die sie reagieren müsste. Leicht feierlich, wie sonst, wird es dann bestimmt nicht mehr.

Das Dienstjahre-Prinzip ist auch pragmatisch. Wer schon weiß, wie der Laden läuft, kann besser eine Sitzung leiten. Ein Gedanke, auf den neben dem Schweizer Nationalrat auch schon die Landtage in Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein gekommen sind und der für jeden Gremienprofi, gleich ob in Behörden oder Betrieben, anschlussfähig sein dürfte.

Wann sonst bekommt das Alter mal so eine Bühne?

Es ist eine andere Facette der Innovation, die nachdenklich macht. Hat nicht das Alter aus sich selbst heraus eine Autorität, die in demokratischen Versammlungen Platz greifen kann? Immerhin ist die Eröffnungsrede bisher eine Situation gewesen, in der diese menschliche Eigenschaft einmal in den Vordergrund rückte, während man sich ansonsten zunehmend daran gewöhnt, dass Enddreißiger europäische Mittelmächte führen. Einer oder eine bekamen für einen Moment alle Aufmerksamkeit, obwohl sie nichts mehr dafür bieten mussten als das, was sie sind. Ein Moment, in dem Demokratie zur Besinnung kommen konnte, wem sie dient, woraus sie besteht, was sie trägt: Leben.

Es war auch ein Moment, der in die Diskontinuität passte, die den Gang der Gesetzgebung prägt. Jeder Bundestag erfindet sich neu. Ein Abschnitt zwischen Untergang und Aufbruch, in dem auf Irritation Ordnung folgen soll. Hier bot das Alte Halt. Es spricht nichts dagegen, ihn mit Best-practice-Methoden zu bewältigen. Aber ein Reiz ist verloren, ohne dass ein nötiger Fortschritt erkennbar wäre. Ein Lammert-untypisches Reförmchen. Nicht modern, sondern brav. Möglich, dass es ihm zum Ende hin etwas langweilig wird.

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