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In der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus sprach die Holocaust-Überlebende Charlotte Knobloch (rechts).

© Tobias Schwarz/AFP

Bundestag erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus: Zwei eindrucksvolle Reden - und eine Botschaft an die AfD

Charlotte Knobloch und Marina Weisband berichten in eindrucksvollen Reden über ihre Perspektive auf den Holocaust und jüdisches Leben in Deutschland.

Schon der erste Satz hallt lange nach. „Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche“, sagt die Holocaust-Überlebende Charlotte Knobloch im Parlament. Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, die die israelitische Kultusgemeinde in München leitet, ist gekommen, um noch einmal ihre Geschichte zu erzählen, die Geschichte eines jüdischen Lebens in Deutschland. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass im deutschen Parlament eine Überlebende des nationalsozialistischen Massenmordes an den europäischen Juden spricht.

In der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus sind neben zahlreichen Abgeordneten auch Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Repräsentanten von Bundesrat und Verfassungsgericht versammelt. Zum Auftakt mahnt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die deutsche Erinnerungskultur schütze nicht vor einer dreisten Umdeutung oder gar Leugnung der Geschichte. „Wir müssen die Formen des Erinnerns erneuern.“

Ganz still wird es im Plenarsaal, als Charlotte Knobloch in wenigen, knappen Sätzen ein Porträt ihrer Großmutter Albertine Neuland zeichnet. „Mit meinem Großvater treu ihrer deutschen Heimat verbunden. Hoch angesehen in der Bayreuther Kaufmannsgesellschaft. Passionierte Wagnerianerin. Ermordet in Theresienstadt im Januar 1944.“ Ihr Vater Fritz Neuland sei ein „treuer deutscher Patriot“ gewesen, im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Doch diese Loyalität habe ihn vor der Demütigung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten nicht schützen können. „Mein Vater hat mich Liebe zu Deutschland gelehrt – trotzdem.“

Als Sechsjährige sieht sie die Synagoge brennen

Charlotte Knobloch wird im Oktober 1932 in München geboren, drei Monate später kommt in Berlin Adolf Hitler an die Macht. Schon als kleines Kind erlebt sie Ausgrenzung, darf nicht mehr mit anderen Kindern spielen. Am 9. November 1938 irrt die Sechsjährige an der Hand ihres Vaters durch die Straßen von München. Überall Lärm und Geschrei, die Synagoge brennt. Sie sieht, wie SA-Männer einen älteren Mann aus dem Haus zerren, sein Gesicht ist blutüberströmt. „Ich darf nicht stehen bleiben. Nicht stolpern. Nicht weinen. Nur nicht auffallen!“

Drei Jahre später wird ihre Familie vor eine entsetzliche Wahl gestellt: Entweder sie oder ihre Großmutter soll nach Theresienstadt deportiert werden. „Meine starke Großmutter trifft augenblicklich die unmögliche Entscheidung.“ Als Charlotte Knobloch diesen Satz 80 Jahre später im Bundestag sagt, stockt ihre Stimme. Sie ringt um Fassung. Es sind Momente wie dieser, die denjenigen, die zuhören wollen, den Holocaust in seiner ganzen Unfassbarkeit nahebringen.

Weil ihr Vater sie bei einer Bekannten auf dem Land versteckte, hat Charlotte Knobloch überlebt. Nach Kriegsende wollte sie nur noch weg aus Deutschland, aber es kam anders. Sie gründete eine Familie und blieb – und engagierte sich in der jüdischen Gemeinde in ihrer alten Heimatstadt München.

Erstmals sprechen am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus zwei Gastrednerinnen im Bundestag, die für zwei verschiedene Generationen jüdischen Lebens in Deutschland stehen. Nach der Überlebenden Charlotte Knobloch spricht die 33-jährige Politikerin und Publizistin Marina Weisband, die in der Ukraine geboren wurde, damals noch eine Sowjetrepublik. Ihre Familie wollte dort lieber keinen jüdischen Namen tragen, aus Angst vor antisemitischen Anfeindungen. 1993 entschied sich die Familie, das Land zu verlassen. Ihr Vater sagte damals, in Deutschland interessiere es niemanden, dass sie Juden seien. „Da können wir einfach nur Menschen sein.“

„Auch in diesem Land ist es für uns noch immer zu gefährlich, sichtbar zu sein“

Doch auch in ihrer neuen Heimat ist das für eine jüdische Familie keineswegs so einfach. Marina Weisband musste sich in Deutschland für israelische Politik ebenso rechtfertigen wie für religiöse Bräuche. Zum Gebet gehe sie durch Sicherheitskontrollen. „Auch in diesem Land ist es für uns noch immer zu gefährlich, sichtbar zu sein.“ Sie sei dankbar für den Polizeischutz, unter dem jüdische Gemeinden stehen. „Aber das macht was mit einem.“ Antisemitismus beginne nicht erst, wenn auf Synagogen geschossen werde. „Es beginnt mit Verschwörungserzählungen. Es beginnt mit Tiraden über eine angebliche jüdische Opferrolle.“

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Vor der Gefahr durch wachsenden Antisemitismus und durch Verschwörungsmythen warnt auch Charlotte Knobloch im Bundestag. „Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Shoah.“

Auf die Bundesrepublik dürfe man stolz sein, sagt Knobloch. „Aber wir müssen sie wehrhaft verteidigen. Nicht einen Tag dürfen wir vergessen, wie zerbrechlich die kostbaren Errungenschaften der letzten 76 Jahre sind.“

Zum Schluss wendet sie sich an die AfD-Abgeordneten, ohne die Partei beim Namen zu nennen. Einige von ihnen seien vielleicht bereit zu erkennen, „an welche Tradition da angeknüpft wird“. Für die anderen hat die Holocaust-Überlebende folgende Botschaft: „Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen. Und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen. Ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren.“

Am Ende dieser Rede klatschen die Abgeordneten stehend Beifall, der allerdings auf der rechten Seite des Plenums ziemlich verhalten ausfällt.

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