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Ausnahmepolitikerin. Amira Mohamed Ali von den Linken ist die erste Muslima an der Spitze einer Bundestagsfraktion.

© imago images/Metodi Popow

Bundestag und Landtage in Deutschland: Warum es so wenige Politiker mit arabischen Wurzeln gibt

Politiker mit arabischen Wurzeln sind in Deutschland eine Seltenheit. Die Quote im Bundestag liegt bei 0,3 Prozent. Warum ist das so?

Amira heißt „Fürstin“. Privilegiert und mächtig, kein arabischer Vorname wie jeder andere, die Sonderstellung ist quasi vorgezeichnet. Und die hat Amira Mohamed Ali gleich in mehrfacher Hinsicht: eine junge Frau im männlich dominierten Parlament und auch noch die erste Muslima an der Spitze einer Bundestagsfraktion.

Darüber hinaus – und das wissen eher wenige – ist die Linken-Politikerin neben CSU-Mann Alexander Radwan die einzige Bundestagsabgeordnete mit arabischem Migrationshintergrund. Präziser noch mit „halbem“ Migrationshintergrund, beide Parlamentarier haben einen ägyptischen Vater. Eine Gemeinsamkeit, von der sie bis vor Kurzem nichts wussten.

„Dass es tatsächlich nur zwei Abgeordnete mit arabischen Wurzeln im Bundestag sind, war mir gar nicht bewusst“, sagt Amira Mohamed Ali. Die Größenordnung, die die Nachfolgerin von Sahra Wagenknecht schon eher auf dem Schirm hat: Von den 709 Abgeordneten, die 2017 in den Bundestag einzogen, haben 58 ausländische „Wurzeln“, das sind 8,2 Prozent.

Zum Vergleich: In Deutschland leben mittlerweile mehr als 25 Prozent Menschen mit Migrationsgeschichte, Tendenz steigend. Die meisten unter diesen 20,8 Millionen stammen aus der Türkei (13,3 Prozent, Stand 2018), gefolgt von Polen (10,8) und Russland (6,6).

Aus dem arabischen Raum sind es mehr als 1,7 Millionen. Wie viele von ihnen wahlberechtigt sind, ist statistisch schwer nachvollziehbar. Was man aber weiß: Von den etwa 62 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland haben rund 6,3 Millionen einen Migrationshintergrund.

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Amira Mohamed Ali sagt: „Es ist insgesamt so, dass das Parlament leider keinen Querschnitt der Gesellschaft abbildet.“ 2013 lag die Parlamentsquote von Menschen mit ausländischen Wurzeln noch bei 5,9 Prozent. Ausgewertet hat das die Informationsplattform Mediendienst Integration.

Sie beruft sich auf Befragungen von Parteien und Fraktionen. Denn der Migrationshintergrund wird in den Behörden nicht systematisch erfasst. Über die große Mehrheit der Parlamentarier finden sich online und in den Volkshandbüchern biografische Daten. Die Auskunft ist freiwillig.

Als Mohamed Ali den Fraktionsvorsitz übernahm, thematisierten viele Medien ihre Glauben

Mohamed Ali und Radwan machen keinen Hehl aus der Herkunft ihrer Väter. Radwan bezeichnet sich sogar selbst im Scherz, wie er sagt, als „halben Kameltreiber“. In seiner politischen Arbeit sei es allerdings bislang weitgehend unerheblich gewesen, woher sein Vater stammt.

Der sei außerdem auch schon CSU-Mitglied gewesen. Aber: „Für meinen Vater war es nie ein Thema, für ein Mandat zu kandidieren.“ Weshalb genau, darüber hätten sie nie gesprochen. Der Einfluss des Vaters sei für seine politische Laufbahn jedenfalls weder förderlich noch hinderlich gewesen, sagt der 55-Jährige.

Amira Mohamed Ali hingegen muss schon allein aufgrund ihres orientalischen Namens häufiger Fragen nach Herkunft und Religion beantworten. Besonders im November 2019, als sie überraschend den Fraktionsvorsitz ihrer Partei übernahm, machten viele Medien ihren Glauben an Allah zum Thema. Wollten von ihr nicht nur wissen, was sie politisch vorhat, sondern auch, wie es sich so anfühlt als erste Muslima im Deutschen Bundestag. „Ich war verblüfft darüber, dass das so ein Thema war.“

Einer Minderheit anzugehören, sagt die 40-Jährige, sensibilisiere für „Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen“. Jenseits persönlicher Erfahrungen stellt sie fest: „Wenn man in Deutschland einen erkennbaren Migrationshintergrund hat, ist man oft mit Problemen konfrontiert.“

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Doch Mensch mit Migrationshintergrund, was bedeutet das eigentlich? Das Statistische Bundesamt schreibt: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“

Die Fraktion, die im Bundestag mit 18,8 Prozent anteilig die höchste Zahl dieser Personengruppe aufweist, ist die Linke. Die Partei von Amira Mohamed Ali. Dahinter Grüne (14,9), SPD (9,8) und AfD (8,7). Schlusslicht ist die Unionsfraktion mit nur 2,9 Prozent. Cemile Giousouf war die erste muslimische und türkischstämmige CDU-Abgeordnete im Bundestag, vor sieben Jahren zog sie erstmals ins Parlament ein.

Mittlerweile stellen die Deutschtürken mit einem Anteil von knapp zwei Prozent die größte Gruppe der Nicht-Europäer im deutschen Bundestag. Für Menschen aus den Ländern des Nahen Ostens, der Arabischen Halbinsel und Nordafrika liegt die Quote derzeit bei 0,28 Prozent. Oder namentlich: Mohamed Ali und Radwan.

Tarek Al-Wazir (49) ist seit 2014 Wirtschaftsminister in Hessen. Der Grünen-Politiker hat einen jemenitischen Vater.
Tarek Al-Wazir (49) ist seit 2014 Wirtschaftsminister in Hessen. Der Grünen-Politiker hat einen jemenitischen Vater.

© imago/Reiner Zensen

Auch ein Blick in die Landtage zeigt, dass auf hoher politischer Ämterebene von einer „Islamisierung des Abendlandes“, wie es AfD und Pegida seit Jahren an die Wand malen, kaum die Rede sein kann. Lediglich in drei von 16 Landesparlamenten sitzen Menschen mit arabischem Elternteil.

Vier von insgesamt1898 Abgeordneten: in Hessen der Grünen-Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, Sohn eines jemenitischen Ex-Diplomaten. Und der Sozialdemokrat Bijan Kaffenberger, Youtuber, 31 Jahre alt, Vater aus Marokko. Im Berliner Abgeordnetenhaus ist es Raed Saleh – im Westjordanland geboren und Fraktionschef der SPD.

Die deutschlandweit einzige Frau unter den Landtagsabgeordneten mit arabischen Wurzeln heißt Jasmina Abo El Hemam Heritani, oder einfacher: Jasmina Heritani. Deutsche Mutter, syrischer Vater. Sozialdemokratin mit politischer Wirkungsstätte in Bremen. Der Stadtstaat hatte 2015 mit 18,1 Prozent im Bundesländervergleich die höchste Migrantenquote im Parlament. Schlusslichter mit null Prozent waren Thüringen, Sachsen-Anhalt und das Saarland.

Anfragen bei den entsprechenden Pressestellen und ein Blick in die Volkshandbücher legen nahe: Es hat sich nicht viel geändert. Selbst in Nordrhein-Westfalen, wo mehr als fünf Millionen Personen mit Migrationshintergrund leben (Stand 2018), hatten 2015 nur drei Prozent der Landtagsabgeordneten einen Migrationshintergrund.

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Für die Berliner Migrationsforscherin Deniz Nergiz ist das nicht überraschend. Auf kommunaler Ebene sehe es sogar noch schlechter aus, sagt die Geschäftsführerin des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates. Das Problem sieht sie auf beiden Seiten.

Zum einen fehlten vielen nicht „kerndeutschen“ Bewerbern die Netzwerke, von denen politischer Erfolg abhänge. Als Einwanderer brauche man mitunter mehr Zeit, um sie aufzubauen. Nergiz spricht von der „Extrameile“, die Migranten auf vielen Ebenen zurücklegen müssten.

Zum anderen sieht sie die Ursachen auch in den Parteistrukturen. Dort gebe es keine festen Leitlinien oder Strategien, um diese Gruppe besser einzubinden. Es genüge nicht, nur ein „Auge drauf“ zu haben, die politische Ansprache sei entscheidend.

Mohamed Ali und Radwan sehen in einer Quote den falschen Weg

Vielleicht auch eine Quote? Wie sie gerade die CDU für ihre Frauen durchsetzen will? Da ist die Wissenschaftlerin skeptisch. „Bei der Quotenfrage sitze ich zwischen den Stühlen. Die meisten Migranten, mit denen ich gesprochen habe, waren dagegen.“ Viel zu groß wäre die Befürchtung, dass die Eignung infrage gestellt würde.

Oder auch die Angst davor, beliebig ersetzbar zu sein. Nach dem Motto: Hauptsache ein Araber. Auch Radwan und Mohamed Ali sehen in einer Quote den falschen Weg. Sie sehen aber auch, dass für Migranten in Deutschland A nicht immer nach B führt, Ankunft nicht zwangsläufig zu Beteiligung.

Ein Beispiel für die „Extrameile“ ist der Fall des CSU-Politikers Sener Sahin. Anfang des Jahres hatte ihn seine Partei zunächst als Bürgermeisterkandidaten im schwäbischen Wallerstein vorgeschlagen. Doch an der Basis gab es Vorbehalte gegen den nicht urbayerischen, muslimischen Kandidaten. Er zog zurück. „Ein schlechtes Signal“ sei das gewesen, sagt Radwan. Dabei könnten gerade Menschen aus dem türkischen und arabischen Raum „die klassische Klientel für die CSU“ sein.

„Familientradition, Mittelstand, der Glaube als etwas, woran man sich orientiert“. Radwan sieht Gemeinsamkeiten. Warnt aber auch vor Fundamentalisten, vor dem, was er „die arabische Antwort auf die AfD“ nennt. In vielen Ländern im arabischen Raum gebe es korrupte Eliten, Rückschritt und Lücken im Bildungssystem.

Mehr Pluralität könne auch bedeuten, dass die Falschen hineinkämen. Eine Gefahr, die Mohamed Ali für unrealistisch hält. Ihr Argument: Wer in ein deutsches Parlament gewählt wird, muss zuvor einen längeren Legitimierungsprozess durchlaufen. Muss kandidieren und sich innerhalb der Partei Unterstützung erarbeiten. Da könne nicht jeder einfach mitmischen.

Fatima Abbas

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