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Viele Wähler sind wenige Wochen vor der Wahl noch unentschlossen.

© imago/Christian Ohde

Bundestagswahl 2017: Die Qual der Wahlentscheidung

Gut einen Monat vor der Bundestagswahl ist offenbar noch die Hälfte der Deutschen unentschieden. Warum ist diese Wahl so schwer? Ein Streifzug durch Berlin.

Die rundliche Frau mit den blonden Locken sitzt auf einer Bank am Fuße des Fernsehturms, sie hält ihren roten Rucksack fest umklammert. Die Familie ist hinauf gefahren und sie ist unten geblieben. Höhenangst. Die Frage scheint sie nicht zu überraschen. Was sie wählen will? „Ich hab schon immer CDU gewählt. Das ist Gewohnheit“, sagt die Hausfrau in breitem Schwäbisch. „Uns ist es ja immer gut gegangen. Wer weiß, ob andere Parteien es besser machen würden.“

Doch so leicht wie der 40-Jährigen aus Baden-Württemberg fällt die Entscheidung knapp vier Wochen vor der Bundestagswahl bei weitem nicht allen. Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach wissen 46 Prozent der Deutschen noch nicht, was sie wählen wollen. So hoch, ermittelte das Institut, war der Anteil der Unentschiedenen so kurz vor der Wahl noch nie. Und nicht nur auf dem Papier, auch in Gesprächen mit Bekannten, Kollegen, Verwandten kommt die Frage derzeit häufig auf: Was soll man denn nun wählen? Ist die Partei, auf die man all die Jahre gesetzt, hat überhaupt die richtige? Und gibt es das überhaupt – die „richtige“ Partei?

Unter Unentschlossenen sind viele Nichtwähler

Demoskopen und Wahlforscher beantworten die Frage, warum es in diesem Jahr so viele Unentschiedene gibt, erst einmal mit einer Einordnung: „Unter den Unentschlossenen ist ein großer Teil Nicht-Wähler, die das in Umfragen oft nicht zugeben möchten“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. „Außerdem gibt es Menschen, die eine Neigung für eine Partei haben, sich aber noch nicht festlegen wollen.“

Eine Antwort auf die Frage, warum die Wahl in diesem Jahr so schwer zu fallen scheint, ist aber vielleicht ohnehin nicht allein in der Statistik zu finden. Sondern auf der Straße. Bei denen, die die Wahl am Ende treffen müssen. Den Wählern.

Die Suche beginnt am Reichstag. Das Parlament erhebt sich an diesem Sommertag gewohnt imposant in den blauen Himmel. Spätestens 30 Tage nach der Wahl werden sich die neuen Abgeordneten darin einfinden. Müssten hier nicht ein paar Antworten zu finden sein? Doch an diesem Vormittag macht auf dem Platz vor dem Reichstag ein spanisches Pärchen Selfies, lauschen Gruppen ihrem Reiseführer, stehen zwei junge Moderatoren vor einer Kamera. Wähler sind kaum welche in Sicht. Nur etwas abseits sitzt ein junger Mann mit einem großen Rucksack. „Auf Wohnungssuche in Berlin“, erklärt er. Nach dem Wahlsieg Donald Trumps ist er in die SPD eingetreten, soziale Gerechtigkeit findet er gut. Deswegen werde er natürlich SPD wählen. „Auch wenn die Parteien schon Probleme haben, sich voneinander abzugrenzen“, schiebt er noch hinterher.

Das geringste Übel wählen

Ein paar hundert Meter weiter, wird das Problem schon deutlicher. Am Spreeufer sitzt Carsten. Hinter dem 53-Jährigen schieben sich die Ausflugsboote durch den Fluss. Er hat sich eine Zigarette angezündet, vor ihm steht ein Bier. Ein blaues Basecap hat er verkehrt herum aufgesetzt, in seinem Oberkiefer fehlen ein paar Zähne. „Ich hab schon immer die Grünen gewählt, das werde ich auch dieses Mal“, sagt er. Nicht aus Überzeugung, auch nicht wegen der Umwelt – das Thema hätten ja mittlerweile fast alle erkannt. Aber weil die Grünen die Partei sei, die am wenigsten schlecht sei. Das geringste Übel quasi.

Die Politiker wirtschafteten doch alle in die eigene Tasche, sagt Carsten, da habe er kein Vertrauen. „Gabriel, Steinmeier, Künast“, zählt er auf, „da glaub ich, dass die ehrlich sind. Aber die anderen...“ Gabriel, Steinmeier – die sind doch in der SPD? Carsten winkt ab. Die Partei kommt für ihn trotzdem nicht in Frage. „Früher war die SPD mal für die Arbeiter und die CDU bürgerlich. Jetzt haben die sich in der Mitte getroffen. Und der Schröder mit seiner Agenda 2010. Seitdem hat die SPD verschissen.“

"Politiker sind nicht authentisch"

In einer Einkaufspassage unweit vom Berliner Dom sitzt der Akustikingenieur Sebastian mit Brille und Star-Wars-Shirt in einem Café. Es ist seine dritte Wahl, auch er ist nicht begeistert. Anfangs habe er noch die SPD gewählt, aber seit fünf, sechs Jahren stimme er für die Linken. Nicht aus Überzeugung. „Es gibt eigentlich keine Partei, die mich wirklich überzeugt. Die meisten Politiker sind nicht authentisch, wollen bloß nichts Falsches sagen.“ Die Linken sprächen Missstände wenigstens an – zum Beispiel die Waffenlieferungen ins Ausland.

Im Grunde hat der Ingenieur nun resigniert vor der Wahl, hat aufgehört sich zu informieren. „Ich weiß ja, was ich wähle, und Merkel bleibt eh Bundeskanzlerin.“ Doch dann sagt der junge Mann noch etwas Überraschendes: Wenn es knapper geworden wäre zwischen CDU und SPD, hätte er vielleicht – „entgegen meiner Prinzipien“ – CDU gewählt. „In der Flüchtlingskrise hat mich Merkel das erste Mal menschlich überzeugt.“

Entscheidungsschwierigkeit vor allem im linken Lager

Teilweise passt das zu dem, was der Wahlforscher Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen beobachtet. Nur ein Drittel der Wähler habe angegeben, dass für sie nur eine Partei in Frage komme. „Der Rest ist potenziell wechselfähig.“ Früher sei die parteipolitische Verortung viel zementierter gewesen. Dass sich das nun geändert hat, „hängt damit zusammen, dass sich die Parteien innerhalb der letzten 20 Jahre angenähert haben“.

Das sieht die Wahlforscherin Simone Abendschön von der Universität Gießen ähnlich. „Früher war klar: Wer Arbeiter ist und in einer Gewerkschaft, wählt auch die SPD. Doch die Parteien sind nicht mehr so stark mit sozialen Milieus verknüpft. Das führt zu einer größeren Unsicherheit“, sagt sie.

Doch selbst diejenigen, die noch nicht ganz entschieden hätten, seien nicht komplett offen, beobachtet Jung. „Denjenigen, die mehrere Parteien im Blick haben, geht es oft um eine taktische Entscheidung innerhalb des von ihnen präferierten Lagers.“ Sie seien beispielsweise noch nicht festgelegt zwischen CDU und FDP oder zwischen SPD und Grünen. Dass jemand, der normalerweise die Linke wählt, auch für eine Wahl der CDU offen wäre, ist dementsprechend ungewöhnlich.

Fehlendes Interesse der Wähler

Die Suche nach den Unentschlossenen führt nun heraus aus Mitte, mit der Straßenbahn nach Hohenschönhausen. Plattenbaugebiet. Zwischen den Hochhäusern stehen ein paar Kastanien, darunter sitzt auf einer Bank Jenny mit ihrem Freund, ein Bein über seines gelegt. Die Blondine mit dem Lippenpiercing und den aufgeklebten roten Fingernägeln will eigentlich nicht viel sagen. „Ich werde nicht wählen gehen, ich wüsste gar nicht wen“, sagt die 23-Jährige knapp. Sie wisse noch nicht einmal, welche Partei für was zuständig sei. Und Lust, sich zu informieren, habe sie auch keine. Dann überlegt sie doch noch einmal kurz. „Ich fände ja eine Partei gut, die was für Kinder macht. Welche ist das?“

Jenny hat selbst zwei Kinder, würde mit ihnen gerne wegziehen von hier. Doch sie findet keine Wohnung. Alles zu teuer. „Aber für die Flüchtlinge“, sagt sie, „werden Wohnungen gebaut, für die sind welche da.“ Es sei ja richtig, dass Deutschland denen helfe, die zu uns kommen. „Aber ich frage mich schon: Wer hilft uns? Wir Deutschen müssen doch auch an uns denken.“ Wäre denn die AfD eine Partei, die ihr sympathisch ist? „Keine Ahnung“, sagt Jenny. „Warum denn?“

Apps sollen bei der Entscheidung helfen

Später dann Gegenprogramm, Prenzlauer Berg, Kollwitzplatz. Eine grüne Oase umgeben von Altbauten. Mütter sitzen gemeinsam an einem Sandkasten, die Kinder spielen. Auf einer Wiese löffeln die Freundinnen Alina und Leonie Eis aus kleinen Pappbechern. „Bei der letzten Wahl habe ich die Grünen gewählt“, sagt Alina. „Ich dachte, das ist safe, die sind für Umwelt, da kann ich nichts falsch machen.“ Jetzt ist sie sich da nicht mehr so sicher. Wofür stehen die Grünen heute? Alina überlegt. „Keine Ahnung.“ Aber sie sei eben auch noch nicht richtig auf dem Laufenden, ihre Freunde hätten sich ebenfalls noch nicht entschieden.

Deswegen hat sich die Studentin sich App heruntergeladen, „Wahl Swiper“ heißt die, eine Art Dating-App für Parteien. Aber sie habe nur kleine Parteien vorgeschlagen bekommen, die sie nicht kannte, die Grünen waren nicht darunter. „Jetzt will ich noch den Wahl-o-mat machen und ein paar Wahlprogramme lesen“, sagt sie. Auch wenn sie auf jeden Wahl zur Wahl gehen will, kommt ihr die Entscheidung nicht so richtig dringend vor. „Es scheint einfach nicht so wichtig zu sein, was man wählt. Uns geht es in Deutschland sehr gut. Alle denken: Es läuft schon.“

Wechselstimmung fehlt

Da liege auch eines der Probleme, das die SPD gerade habe, sagt Forsa-Chef Güllner. Es gebe keine Wechselstimmung. Bei der guten Lage in Deutschland falle es der SPD schwer, den Leuten klar zu machen, dass die Perspektive schlecht sei. Die Partei werde eher aus alter Loyalität, denn aus Überzeugung gewählt. Und auch bei denen, die bei den vergangenen Wahlen die Grünen gewählt haben, gebe es derzeit noch Unsicherheiten. „Die Grünen haben ihre Attraktivität, gerade für Jüngere, deutlich eingebüßt, weil sie etablierter geworden sind und ihre Vertreter älter.“

Insgesamt ist es laut Wahlforscher Jung auffällig, dass die Unionswähler sich in ihrer Wahl oft sicher seien, während es im linken Lager größere Entscheidungsschwierigkeiten gebe. „Dort gibt es eine größere Konkurrenz“, sagt er. Dazu kommt noch die Konkurrenz aus dem anderen Lager: So wirbt etwa die FDP mit Themen, die auch Wählern der Grünen wichtig sind – wie Digitalisierung und Bürgerrechte. Und Merkel hat mit ihrer Entscheidung in der Flüchtlingskrise sowie der Öffnung der Abstimmung zur Ehe für alle auch bei Wählern im linken Lager Punkte gesammelt. Das verkompliziert die Entscheidung zusätzlich.

"Ich bin so geprägt"

Der 30-jährige Franz ist einer der verunsicherten SPD-Wähler, der sogar eine Zeit lang ein Parteibuch hatte. Bei einem Radler sitzt der Sozialwissenschaftler kurz vor Feierabend vor einer Kneipe in Kreuzberg und weiß nicht mehr, ob ihm die Forderungen der SPD noch weit genug gehen – „nach acht Jahren Merkel mittragen“. Doch die Linken will er nicht wählen – „zu viele Spinner dabei“, sagt er. „Und den Grünen vertraue ich nicht, dass sie die moderne Linke sind, die ich gerne wählen würde, weil sie in Baden- Württemberg eine moderne CDU sind.“ Es brauche in Deutschland eine ökologische und sozial-progressive Partei. „Das fehlt mir.“

Die 77-jährige Almut ficht das alles nicht an. Sie sitzt mit einem Waffeleis unter einem großen Sonnenschirm in der Nähe des Fernsehturms und erholt sich vom Besuch bei Kaufhof, dort hat sie sich ganz überrollt gefühlt vom riesigen Angebot. Die kleine Frau mit den grauen Haaren, die ansonsten ganz in Grün gekleidet ist, ist in der DDR aufgewachsen, Ost-Berlinerin. Sie will die Linke wählen. Sie macht das nicht an Personen fest oder an der Tagespolitik, für sie ist das ihre Grundhaltung. „Ich war schon immer links, ich bin so geprägt.“ Mehr ist für sie dazu nicht zu sagen.

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