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Bundesverfassungsgericht: Sicherungsverwahrung: Das Maß regeln

In Karlsruhe prüfen die Verfassungshüter, ob die Sicherungsverwahrung für rund 100 Straftäter rechtens ist. Wozu tendieren die Richter?

„Wegsperren, und zwar für immer.“ Die Losung des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zum Umgang mit Sexualverbrechern prägt noch immer die Diskussion der Sicherungsverwahrung in Deutschland. Jetzt steht die umstrittene Maßnahme erneut auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts.

Worum geht es in dem Verfahren?

2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein weitreichendes Urteil gefällt. Er erachtete ein deutsches Gesetz zur Sicherungsverwahrung als menschenrechtswidrig. Dabei ging es um den 1998 noch von der Kohl-Regierung durchgesetzten Wegfall der Höchstgrenze für die Sicherungsverwahrung von zehn Jahren. Straftäter, die vor 1998 in die Verwahrung gekommen waren und bei denen die ehemals geltende Zehn-Jahres-Frist abgelaufen war, zogen vor Gericht. Sie wollten trotzdem freigelassen werden. In Karlsruhe scheiterten sie, aber der EGMR in Straßburg gab ihnen Recht. Mit dem Urteil im Rücken begehrten sie erneut ihre Freilassung. Die Gerichte verweigerten sie wieder. Dagegen haben zwei Betroffene in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde erhoben. Zwei weitere wenden sich gegen die von der Schröder-Regierung eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung.

Warum ist der Streit so bedeutsam?

Der Karlsruher Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat es zu Beginn der Verhandlung gesagt: Es sei eine „teilweise sehr emotional geführte Diskussion“. Das ist milde untertrieben. Kaum etwas löst in der Öffentlichkeit mehr Angst, Empörung und Wut aus als Sexualstraftaten und die anschließenden Verfahren gegen die Täter. Mit dem EGMR-Urteil drohte Ungeheuerliches: Über 100 von deutschen Gerichten als hochgefährlich eingestufte Täter könnten freikommen.

Was bedeutet der Streit für die Bundesregierung?

Schon dass Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) die deutsche Haltung in Karlsruhe persönlich verteidigte, zeigt, wie ernst man die Angelegenheit nimmt. Seit 1. Januar ist eine umfassende Reform der Sicherungsverwahrung in Kraft. Unter anderem ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgeschafft, kann aber noch für Taten bis Ende 2010 verhängt werden. Dazu gibt es ein „Therapieunterbringungsgesetz“, mit dem aufgrund des EGMR-Urteils Freigelassene wieder festgesetzt werden sollen, wenn man ihnen psychische Störungen nachweisen kann. Ob die Reformen halten, was die Ministerin verspricht, ist offen. Gegenstand des aktuellen Verfahrens seien die Gesetze auch nicht, aber das Urteil könne „Auswirkungen auf ihre verfassungsrechtliche Bewertung haben“, sagte Voßkuhle.

Was heißt „Sicherungsverwahrung“?

Im deutschen Strafrecht regiert das Schuldprinzip. Man kann nur so hart bestraft werden, wie die Tat vorwerfbar ist. Hat man den Schuldgehalt gewissermaßen abgesessen, kommt man frei. Bei der Sicherungsverwahrung gilt dieses Prinzip nicht, deshalb ist sie nach deutschem Recht auch förmlich keine Strafe, sondern eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Sie dient vor allem dem Schutz der Allgemeinheit. So wird die Maßregel in normalen Strafanstalten vollzogen, oft unter ähnlichen Bedingungen wie bei „normalen“ Strafgefangenen. Das bereitet juristischen Theoretikern Kopfzerbrechen. Dem stellen die Praktiker ihre guten Erfahrungen gegenüber. Der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung, Eckhart Müller, rechnete vor, dass in Deutschland dank des „differenzierten und zielgenauen Systems“ insgesamt moderat gestraft werden könne. 2008 habe es nur 2900 zu mehr als zehn Jahren Haft Verurteilte gegeben, in Frankreich seien es 8700 gewesen, in Großbritannien sogar 16 000. Würde die Verwahrung abgeschafft, würden Richter wieder härter und länger bestrafen.

Wieso hat der EGMR gegen Deutschland geurteilt?

Das Straßburger Gericht urteilt auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Danach sind, genau wie nach dem Grundgesetz, rückwirkende Strafen verboten. Straftaten müssen nach ihrer Art und der Schärfe der Folgen zum Zeitpunkt der Tat genau bestimmt sein, alles andere wäre ein Widerspruch zum Vertrauen der Bürger, das sie in ihren Staat haben dürfen. Der EGMR hat das deutsche System nicht grundsätzlich infrage gestellt, sich aber deutsche Justizvollzugsanstalten angeschaut – darunter Berlin-Tegel – und festgestellt, dass Strafhaft und Verwahrung de facto auf dasselbe hinauslaufen. Solange beides so ähnlich ist, sagen die Richter, dürften keine Unterschiede gemacht werden. Es gilt das Rückwirkungsverbot.

Wie argumentieren die Kläger?

Ihre Vertreter, die Strafrechtsprofessoren Jörg Kinzig und Gunter Widmaier, pochen auf die strikte Einhaltung des Rückwirkungsverbots, auch die Verfassungsgerichte in Frankreich und der Schweiz machten keinen Unterschied zwischen Sicherungshaft und Strafhaft. Widmaier hält der Bundesregierung vor, sie habe auch mit den Neuregelungen versagt, die nachträgliche Sicherungsverwahrung bleibe oft anwendbar, im Jugendrecht sei sie überhaupt noch nicht abgeschafft.

Wie wehrt sich die Justizministerin?

„Das Rückwirkungsverbot ist ein zentraler Grundsatz, an dem nicht gerüttelt werden darf, auch wenn eine verängstigte Öffentlichkeit Schutz um jeden Preis verlangt“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Doch Deutschland habe mit seinem System eine Balance aus Sicherheit und Freiheit gefunden. Sicherungsverwahrung bleibe die Ultima Ratio, die ein hohes Maß an Einzelfallgerechtigkeit ermögliche. Mit dem Therapieunterbringungsgesetz sei der Spagat gelungen, auch den Vorgaben des EGMR gerecht zu werden.

Wie könnte das Gericht entscheiden?

Fest steht, dass man in Karlsruhe die Ängste und Sicherheitsbedürfnisse in der Bevölkerung ernst nimmt. Allerdings auch nicht ernster als rechtsstaatliche Grundsätze. In einem Urteil von 2004 hatten die Richter deutlich gemacht, es dürfe keinen „reinen Verwahrungsvollzug“ gefährlicher Täter geben, es müsse einen Abstand zum Normalvollzug geben. Zugleich hieß es damals noch, dass Verwahrung eben keine Strafe und der Wegfall der Zehn-Jahres-Grenze deshalb verfassungsmäßig sei. Nun sieht sich das Gericht in der misslichen Situation, sich entweder korrigieren zu müssen oder in Konfrontation zum EGMR zu entscheiden. Wahrscheinlich ist, dass es deshalb einen Mittelweg sucht. Der Rechtsprofessor Henning Radtke, der als Sachverständiger geladen war, und Anwalt Widmaier schlugen diesen Mittelweg vor: Das Verfassungsgericht bestätigt das deutsche System, macht aber enge Vorgaben, dass nur extrem und akut gefährliche Täter mit der Rückwirkungsproblematik noch festgehalten werden dürfen. Alle anderen müssten freikommen. Allerdings, meinte Richter Udo Di Fabio, sei dafür „die Relativierung des Absoluten“ nötig, eben des Rückwirkungsverbots. Der Justizministerin mag ihr Spagat gelungen sein – die Karlsruher Richter haben ihren noch vor sich.

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