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Politik: Carlton oder Ritz-Carlton

BERLINALE

Von Jan SchulzOjala

Wer gewinnt den Goldenen Bären? Viele Filmfans werden wieder leidenschaftlich auf ihre Favoriten wetten, wenn die Berlinale in den kommenden zehn Tagen die Stadt in Atem hält. Mit vielleicht noch größerer Spannung aber verfolgt die Branche einen Wettbewerb der anderen Art. Wer macht derzeit das wichtigste Filmfestival der Welt?

Rundheraus gesagt: Im dritten Jahr der Ära Kosslick ist die Berlinale drauf und dran, dem merkwürdig dahinwelkenden Marktführer Cannes den Rang abzulaufen. Programmatisch. Organisatorisch. Konzeptionell. Die Berlinale mag zwar nach Venedig und Cannes das jüngste Festival unter den drei Großen sein und lange brav auf dem filmolympischen Bronzetreppchen gestanden haben. Heute aber gilt allein: Wer das beste Festival macht, macht auch das wichtigste.

Natürlich profitiert Berlin dabei auch vom eklatanten Schwächeln der Konkurrenz. Venedig macht seit Jahren vornehmlich durch dauernde Chef-Wechsel und neuerdings durch massive politische Eingriffe einer Regierung von sich reden, die von vielem wenig und von Kultur nahezu nichts versteht. Damit hat sich die Old Lady vom Lido ebenso schleichend wie beständig ins Abseits manövriert. In Cannes wiederum hat mit Gilles Jacob ein machtbewusster, in seinem Ruhm erstarrter Nestor die Tagesgeschäfte nur zum Schein einem Jüngeren überlassen – mit entsprechend lähmenden Folgen fürs Programm. Und das Rezept dagegen? Man begnügt sich beiderseits damit, recht ungeniert vom einst erworbenen Ruf zu leben.

Die Berlinale dagegen ist frisch. Und bringt sich, mit modernem Festivalzentrum und effizienter Infrastruktur, überzeugend ins Spiel. Wo andere mit verkrusteten Führungsstrukturen kämpfen, hat Dieter Kosslick seinen Laden geschmeidig vernetzt: intern von Anfang an, inzwischen auch mit der Stadt. Sogar der alte Vorwurf, die Berlinale diene den Oscar-Kandidaten bloß als Startrampe, hat an Biss eingebüßt – schließlich programmiert Kosslicks Team das Festival insgesamt mit Mut zum Risiko und zu politischem Profil. Und wer heute über die Fülle neuer Reihen klagt, die Kosslick im Jahresrhythmus einführt, übersieht die imponierende Kreativität, die diesen Expansionskurs steuert. Außerdem zieht das Festival damit bewusst den Nachwuchs ins Boot. Kein Wunder, dass die Berlinale mittlerweile weltweit mehr Medien anlockt als Cannes. Und wenn sich nächstes Jahr ihr Filmmarkt noch stärker entfaltet, weil der bislang fast zeitgleich stattfindende American Film Market seinen Termin verlegt, sind die Macher an der Croisette auf einem weiteren ureigenen Feld empfindlich herausgefordert – dem Filmgeschäft.

Andererseits: Tut Dieter Kosslick, der einstige Filmförderer, nicht Jahr für Jahr weniger für den deutschen Film? Erst vier, dann drei und diesmal nur noch zwei Deutsche im Wettbewerb und demnächst vielleicht gar keiner mehr? Im Gegenteil: Zeitweilige Zurückhaltung kann schonen – anders als in Cannes, wo die Kumpanei mit der heimischen Filmindustrie zuletzt zum Gespött der Branche auch indiskutable Franzosen in den Wettbewerb hievte. Zudem beweist die Berlinale damit notwendige Unabhängigkeit – anders als etwa das Festival am Lido, das die Berlusconi-Getreuen derzeit eisern zum totalen Schaufenster für den italienischen Film umzubauen trachten.

Bleibt das Wetter. Auch wenn es gerade tapfer auf Frühling macht: Selbst die schönste Berlinale-Sonne hat keine Chance gegen ihre Sommer-Kolleginnen an der Adria oder an der Côte d’Azur. Doch wirklich schaden tut das nicht. Anders als bei den Branchenfestivals der mediterranen Küstenstädtchen strömt das Publikum in Massen in „seine“ Berlinale. Und lockt so mit dem besten Härtetest: Das Programm muss sich beim echten Zuschauer bewähren, und die FilmEinkäufer aus aller Welt bekommen die Resonanz gratis und live.

Wer gewinnt den Goldenen Bären? Wetten hin, Wetten her: Das entscheidet die Jury. Wer ist die Nummer eins – Cannes oder Berlin, Carlton oder Ritz-Carlton? Das entscheidet die Zeit. Sagen wir’s diplomatisch: Cannes hat die Aussicht. Berlin die Aussichten.

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