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Mit seiner Entscheidung hat Cem Özdemir viele Grüne überrascht.

© Felix Kästle/dpa

Cem Özdemirs Kampfansage: Das Leiden der Grünen – und ihre Furcht vor Egotrips

Mit der grünen Geschlossenheit ist es vorbei: Cem Özdemir und Kirsten Kappert-Gonther wollen in die erste Reihe der Fraktion. Ob sie das schaffen, ist ungewiss.

Der zweiseitige Brief, den Cem Özdemir am Samstagnachmittag an die Abgeordneten der Grünen-Bundestagsfraktion verschickte, hatte es in sich: „Nun habt Ihr die Wahl“, beendet der Ex-Parteichef das Schreiben. Gemeinsam mit der Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther kündigt er dort an, sich für die Doppelspitze an der Fraktion zu bewerben, die in gut zwei Wochen gewählt wird. Eine Kampfansage an das bisherige Führungsduo, das seit dem Herbst 2013 an der Spitze steht: die Thüringerin Katrin Göring-Eckardt und den Bayern Anton Hofreiter.

Es ist Özdemirs zweiter Anlauf, in die erste Reihe zurückzukehren. Im Herbst 2017 hatte er die Grünen als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl geführt, gemeinsam mit Göring-Eckardt. Doch mit dem Aus der Jamaika-Gespräche platzte sein Traum, Minister zu werden. Noch einmal als Parteichef antreten wollte Özdemir nach gut neun Jahren auf diesem Posten nicht. Schon damals dachte er über eine Kampfkandidatur in der Fraktion nach. Als er merkte, dass er nicht ausreichend Unterstützer hatte, nahm er davon jedoch Abstand. Im Bundestag übernahm er die Leitung des Verkehrsausschusses.

Nun will Özdemir es noch einmal wissen. Und dieses Mal tritt er im Team an: Als Partnerin hat er sich die Bremer Abgeordnete Kisten Kappert-Gonther vom linken Flügel gesucht, die als Bundestagsneuling bisher eher unbekannt ist. Andere erfahrenere Parlamentarierinnen hatten ihm zuvor eine Absage erteilt, heißt es in der Fraktion.

Ohne eine linke Frau, das weiß Özdemir, hätte er keine Chance. Die grünen Regularien sehen vor, dass mindestens eine Frau an der Spitze stehen muss. Als ungeschriebenes Gesetz gilt außerdem, dass in der Führung Realos und Parteilinke vertreten sein sollten. Dass mit Annalena Baerbock und Robert Habeck an der Parteispitze eine Ausnahme von dieser Regel gemacht wurde, führt dazu, dass der linke Flügel in der Fraktion nun umso mehr auf diesen Proporz achtet.

Mit seiner Kandidatur setzt Özdemir offenbar auf den wachsenden Unmut über die aktuelle Führung. Ein langjähriges Fraktionsmitglied spricht von „einem großen Leidensdruck“ unter den Grünen-Abgeordneten: „Toni ist schwach und Göring-Eckardt auch nicht gerade brillant.“ Dies sei die Stimmungslage in einem großen Teil der Fraktion. Ein anderer Abgeordneter klagt, die Fraktion werde zu bürokratisch geleitet, es kämen im Unterschied zu den beiden Parteivorsitzenden zu wenig mutige Initiativen.

Özdemirs Kandidatur ist kein Selbstläufer

Und doch ist Özdemirs Kandidatur kein Selbstläufer, auf den Ausgang will in der Fraktion keiner wetten. Manche Abgeordnete rechnen mit seinem Scheitern, andere sprechen von einem knappen Rennen. Klar ist: Wenn Özdemir nochmal eine Chance haben will, nach der nächsten Bundestagswahl Minister zu werden, muss er jetzt seinen Führungsanspruch anmelden.

Seine Unterstützer argumentieren, Özdemir sei nach wie vor einer der bekanntesten Grünen-Politiker. Im Bundestag zeigte er klare Kante gegen die AfD, zuletzt wurde er in der Frankfurter Paulskirche mit dem Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung ausgezeichnet. Den beiden beliebten Parteichefs Baerbock und Habeck wollen Özdemir und Kappert-Gonther außerdem keine Konkurrenz machen. „Wir streben keine Spitzenkandidatur im nächsten Bundestagswahlkampf an“, schreiben sie in ihrem Brief an die Abgeordneten.

Özdemirs Kritiker hingegen weisen darauf hin, das Erfolgsgeheimnis der Grünen liege momentan auch an der Geschlossenheit. Daran hätten Hofreiter und Göring-Eckardt einen „großen Anteil“, weil sie aus der Mitte heraus führten und sich eng mit dem Bundesvorstand abstimmten. Als Parteichef habe Özdemir für das Gegenteil gestanden, „nämlich Egotrips und einen Hardcore-Realo-Kurs mit hohen Kosten für die Partei“.

Göring-Eckardt und Hofreiter wollen nicht aufgeben

Für viele Abgeordnete kam die jetzige Kandidatur überraschend. „Verrückt“, „crazy“ - das waren Worte, die am Wochenende in grün-internen Telefonaten fielen. Manche nehmen es Özdemir übel, dass er bei der Fraktionsklausur in Weimar, die am vergangenen Freitag zu Ende ging, seine Ambitionen noch nicht publik machte. Und im linken Flügel gibt es Irritationen darüber, dass Kappert-Gonther, eine der Koordinatorinnen des linken Flügels, bei ihren eigenen Leuten nicht vorfühlte, ob sie eine Kandidatur unterstützen würden.

Göring-Eckardt und Hofreiter machten am Wochenende deutlich, dass sie nicht kampflos aufgeben wollen. Nach der Bundestagswahl 2013 hatte Göring-Eckardt sich schon einmal erfolgreich behauptet, als die Baden-Württembergerin Kerstin Andreae gegen sie antrat. Doch inzwischen dürfte es intern für sie schwieriger geworden sein. Schon bei der letzten Wahl erhielten Göring-Eckardt und Hofreiter jeweils nur rund zwei Drittel der Stimmen, obwohl sie damals keine Gegenkandidaten hatten.

Klar ist: Bis zur Vorsitzendenwahl in zwei Wochen werden bei den Grünen noch viele Gespräche geführt werden. Am Montagnachmittag kommen die Abgeordneten zur Fraktionssitzung zusammen, abends treffen sich die Flügel. Dort dürfte es hoch hergehen.

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