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Chancengleichheit: Die Umgezogenen

Ein lange unterschätztes Phänomen rückt in den Fokus der Ausländerpolitik: Habitus als Schranke. Auftreten, Kleidung und Familiengeschichte können Aufstiegschancen von Unterschichts- und Migrantenkindern verhindern.

Berlin - Jung, ehrgeizig, Doktortitel und doch keine Karriere? Es könnte am „Habitus“ liegen, jenem Ensemble von Auftreten, Kleidung, Familiengeschichte bis hin zum richtigen Hobby und Vornamen, das an keiner Universität der Welt zu bekommen ist und das im Bewerbungsgespräch doch alles schlagen kann, wofür die promovierte Bauingenieurin oder der Facharzt mit Auslandserfahrung ein junges Leben lang geackert haben.

Das ist nicht nur eine Alltagserfahrung von gut ausgebildeten Migranten in Deutschland, die sich deswegen immer öfter frustriert ins Ausland verabschieden, obwohl ihr Können und Wollen in Berlin, Köln oder Untertürkheim dringend gebraucht würden. Auch die deutschen Stiftungen, die in den vergangenen Jahren viel Geld und guten Willen in ihre Integrationsprogramme gesteckt haben, mussten erkennen, dass Förderprogramme oder Stipendien für Unterschichts- und Migrantenkinder hier vor eine Mauer fahren. Dass Bildung der Schlüssel zur Integration sei, steht in jeder Sonntagsrede – doch was tun, wenn die Tür nicht aufgeht, weil die Kinder von Putzfrauen und Taxifahrern die entscheidende Nuance weniger parkettsicher sind?

Die Vodafone-Stiftung will das Problem jetzt angehen. Ihre Expertengruppe traf sich in dieser Woche erstmals in Berlin, an einem Ort mit passender Geschichte. Das Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft in Dahlem wurde nach dem Ersten Weltkrieg erbaut, als Ort eines internationalen wissenschaftlichen Austauschs, der Deutschland kulturell in die Welt zurückführen sollte. Als Schlüssel mindestens zur Analyse hat man Pierre Bourdieus Begriff des „Habitus“ festgemacht. Der französische Soziologe verstand darunter jene „feinen Unterschiede“, so der deutsche Titel, die die Milieuzugehörigkeit ausmachen und die den Ausschlag dafür geben, wer als ähnlich gilt und folglich zugelassen wird – in der Straßengang, aber eben auch in Führungspositionen. Da ist die Bildungsbiografie zwar Voraussetzung, aber die Kenntnis der Regeln, Dress- und Geschmackscodes gibt den Ausschlag.

Was alle für ihren ganz persönlichen Stil halten, ist es nur zum kleineren Teil. Der Rest ist sozial: Die englische Elite liebt angeblich den Gartenbau, die französische nie – man schreibt Romane. Deutsche Führungskräfte nannten früher in statistisch signifikanter Zahl klassische Musik als Hobby, in den Geburtsjahrgängen ab 1950 wird stattdessen gejoggt. Bei der Besetzung jeder Professur, verriet Gunter Gebauer, Philosoph an der Freien Universität Berlin, würde sofort Habitus gelesen: Was trägt er, wie tritt sie auf? „Aber eine Berufungsverhandlung ist doch kein Habitusthermometer!“, protestierte Moderator Jürgen Kaube von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. „Doch“, konterte Gebauer. Abweichungen gebe es nur „in sehr engem Rahmen“. Und auch Regelbrüche, ergänzte der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann, der seit Jahren Eliten beforscht, könnten sich nur die leisten, die die Regeln perfekt beherrschten – eine Vorstandsfrau im Mini, die er für seine Arbeit befragte, war von uraltem Industrieadel.

Dass jene „feinen Unterschiede“, die in der Oberschicht den Unterschied machen, selbst die begabtesten Unterschichtskinder ausschließen, muss sich ändern, das war Konsens. Vieles lässt sich lernen, und die korrekte Handhabung eines Hummerbestecks, meint Hartmann, sollte man auch nicht überbewerten. Anders verhält es sich mit dem Instrumentarium der Macht. „Ich habe immer den Eindruck, die andern wissen, was Macht ist und können damit umgehen. Und ich weiß es nicht.“ Das habe ihm, sagte Hartmann, einmal ein Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen gesagt. Ob Managerseminare ausgleichen können, was andern eine machterfahrene Familie in die Wiege legt: Vielleicht finden die Habitus-Experten es demnächst heraus.

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