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Sie haben ihr ganzes Leben noch vor sich. Doch welche Chancen haben sie wirklich?

© dpa

Chancenungleichheit: Welche Chance hat ein Kind in Deutschland?

Jeder kann alles werden – wenn er will. So sollte es eigentlich sein. Tatsächlich aber wirken zig Faktoren auf ein Kind ein, die seinen Weg beeinflussen: die Gene, die Familie oder die Schule. Manchmal ist es auch der Zufall.

Jeden Mittag, wenn er von der Schule nach Hause kam, kämpfte Hassan Asfour mit der Tür. Er kann sich gut daran erinnern, wie er mit dem Schlüssel rüttelte, an der Tür zog und drückte, bis sie aufsprang. Seine Mutter war nicht da, sie arbeitete. Sein Bruder war in der Kita, der Vater lebte im Libanon. Seine Mutter war mit den beiden Söhnen alleine vor dem Bürgerkrieg nach Berlin geflohen. Wenn er den Kampf mit der Tür gewonnen hatte, aß Hassan das vorbereitete Mittagessen, dann lag ein langer Nachmittag mit Hausaufgaben vor ihm. Er machte sie mal und mal nicht.

Seine Mutter wollte, dass er gut in der Schule ist. Sie wollte auch, dass er studiert. Doch sie konnte ihm nicht helfen. Sie hatte im Libanon ein paar Jahre Volksschule absolviert, doch das reichte nicht, um seine Matheprobleme zu lösen. Außerdem verbrachte er immer wieder mehrere Wochen im Krankenhaus wegen der Fehlstellung seiner Beine. Englische Vokabeln konnte er aufholen, aber Mathe, Physik, Bio? Da half es auch nicht, dass die Mutter ihn anschrie, wenn er eine 4 nach Hause brachte. Aus der 4 wurde eine 5. Später, auf der Realschule und im Gymnasium, halfen ihm oft Freunde in den Naturwissenschaften. Er unterstützte sie in Englisch und Deutsch.

Unterschiedliche Wege zum Erfolg. Hassan Asfour (links) und Siamak Ahmadi.
Unterschiedliche Wege zum Erfolg. Hassan Asfour (links) und Siamak Ahmadi.

© Tsp

Bei Siamak Ahmadi war es genau umgekehrt. Er kommt aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus. Aber wegen seiner Freunde hätte er fast die Schule geschmissen. Seine Eltern hätten ihm gerne geholfen bei den Hausaufgaben, aber Siamak war die Hilfe oft lästig. Die Wohnung war voller Bücher, der Vater schrieb an einer Doktorarbeit. Die Mutter holte das Studium nach, das sie im Iran abgebrochen hatte wegen der Flucht nach Berlin. Der Vater war unter dem Schah Admiral gewesen und unterstützte heimlich die Sozialisten. Als die Mullahs an die Macht kamen, musste die Familie fliehen. Dass der Sohn etwas aus seinem Leben machen und studieren würde, stand fest, da war er noch nicht eingeschult.

Was ist wichtiger für den Bildungserfolg? Die Familie? Das Umfeld?

In Berlin reichte das Geld nur für eine Wohnung im Märkischen Viertel in Reinickendorf. Siamaks Freunde kamen aus wenig behüteten Elternhäusern und hingen lieber draußen herum. Da zählte nicht das Schulwissen, sondern die Cleverness und Grobheit der Straße. Andere abziehen oder selbst abgezogen werden, das war die Alternative. Nach der Grundschule bekam Siamak eine Empfehlung für die Realschule. Nur weil sein Vater persönlich beim Direktor vorsprach und seine Ehre als Akademiker und Ex-Admiral in die Waagschale warf, wurde Siamak auf einem Gymnasium in einem anderen Stadtteil aufgenommen. Und was machte er dort? Nur Stress.

Hassan Asfour und Siamak Ahmadi: zwei Jungs, zwei Einwandererfamilien, eine eher bildungsferne, eine bildungsnahe. Der eine wächst mit schulisch ehrgeizigen Freunden auf, der andere gerät in ungute Gesellschaft. Was ist wichtiger für den Bildungserfolg? Die Familie? Das Umfeld? Oder doch der einzelne Lehrer?

Tatsache ist: In kaum einem anderen westlichen Land hängen der Bildungsabschluss und die berufliche Position so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Das haben Studien immer wieder ergeben, zuletzt 2010 eine Untersuchung des Berliner Soziologen Reinhard Pollack. Das hiesige Bildungssystem wirke wie eine große „Sortiermaschine“, schrieb der Wissenschaftler, es gebe „kaum Bewegung und viel Ungleichheit“. Kinder aus unteren sozialen Schichten haben in Deutschland selbst dann schlechtere Chancen, wenn sie in Tests genauso gut abschneiden und über die gleichen kognitiven Potenziale verfügen wie Kinder aus der oberen Schicht. Ein Kind aus gehobenem Elternhaus hat im Bundesschnitt eine 3,4 Mal so hohe Chance aufs Gymnasium zu kommen wie ein Kind von Facharbeitern – bei gleichen schulischen Leistungen. Das geht aus der Grundschulstudie Iglu hervor. Seit dem Jahr 2001 hat sich nichts geändert, heißt es dort.

Sein Freund war richtig gut in Mathe - und endete doch als Meisterdieb und Junkie

Hassan Asfours Mutter fand sich mit den schlechten Noten nicht ab. Sie verzichtete aufs neue Sofa und gab das wenige Geld lieber für Nachhilfe aus. Manchmal fand sie auch einen Nachbarn oder einen Cousin, der fit in Mathe war. In der Familie war es keine Tradition, auf abstrakte Fernziele hinzuarbeiten. Hassans Cousins verdienten lieber gleich Geld, kellnerten oder eröffneten mit ihren Vätern Restaurants. „Meine Mutter war für mich ein großes Vorbild“, sagt Hassan Asfour. „Sie hat vorgelebt, dass es sich lohnt, sich heute einzuschränken für ein späteres Ziel“. Auch wenn er sich immer wieder schulisch durchhängen ließ, wusste er doch, dass er seine Mutter nicht enttäuschen und die Schulkarriere nicht vermasseln durfte. Wenn es darauf ankam, zum Beispiel in der sechsten Klasse vor dem Übergang in die Oberschule, entwickelte er den „Biss“, ohne den Erfolg kaum möglich ist.

Vielleicht hätte er es trotzdem nicht geschafft, wenn er nicht immer wieder Lehrern begegnet wäre, die es gut mit ihm meinten. Ihm in der zehnten Klasse eine Vier mit dickem Minus gaben statt der Fünf, die den Weg zum Abitur verbaut hätte.

Am Tag, als er sich fürs Medizinstudium in Magdeburg einschrieb, knallten zu Hause die Sektkorken. Mutter, Onkel, Cousins waren mächtig stolz. Das beflügelte ihn, erzeugte aber auch einen riesigen Druck. „Jetzt durfte nichts schiefgehen“, sagt Hassan Asfour. Doch er hielt es nicht aus in Magdeburg, fühlte sich fremd. Als ihm ein Mann in der Straßenbahn den Hitlergruß zeigte, war das nur der letze Anlass: Nach drei Monaten schmiss er hin und kehrte nach Berlin zurück. Hier studierte er Sprachen und in Beirut Internationale Beziehungen. Heute leitet er zusammen mit Siamak Ahmadi das Unternehmen und Bildungsprogramm „Dialog macht Schule“, das bundesweit Schüler in ihrer Entwicklung und Schüler und Lehrer bei den Themen Integration und politische Bildung unterstützt.

In Deutschland gibt es einen „Bildungstrichter“ der sozialen Selektion

Hassan Asfour gehört zu einer Minderheit. Von den Kindern nicht-studierter Eltern schaffen es lediglich 43 Prozent auf die gymnasiale Oberstufe und von diesen lediglich 37 Prozent auf eine Hochschule. Von den Kindern akademischer Eltern besuchen 79 Prozent die gymnasiale Oberstufe und von diesen wechseln 84 Prozent an die Hochschule. Das geht aus der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hervor. Das Studentenwerk spricht von einem „Bildungstrichter“ der sozialen Selektion, an dessen Ende schließlich nur 23 Prozent des Nicht-Akademiker-Nachwuchses studiert, aber 77 Prozent der Akademiker-Kinder eine Hochschule besuchen.

Siamak Ahmadi mit seinen studierten Eltern gehört zu den 77 Prozent. Dass er das Abi schaffen würde, war aber auch für ihn lange Zeit nicht klar. Unter den Gymnasiasten aus den feinen Elternhäusern kam er sich wie ein Außenseiter vor und passte schon äußerlich mit seinem Gangsta-Gang und der Sonnenstudio-Bräune nicht dazu. Irgendwann stiftete er Mitschüler zum Diebstahl an. Da war es vorbei mit dem Gymnasium. Er wechselte auf eine Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe. Hier gab es noch andere Jugendliche aus Einwandererfamilien und unterschiedlichen Milieus. Der größte Unterschied aber war: Die Lehrer trauten ihm etwas zu. Ein Biologielehrer entdeckte sein Talent und spornte ihn an, sich bei „Jugend forscht“ zu bewerben. „Zum ersten Mal habe ich richtig gepaukt“, sagt Siamak Ahmadi heute. Er hatte sein eigenes Projekt und entwickelte Ehrgeiz. Mit einem Freund zusammen gewann er den Wettbewerb. Bei der Siegerehrung sprach der Bundespräsident und schwärmte davon, dass Ahmadi und die anderen Preisträger die Zukunft Deutschlands seien. „Ich saß da mit meinen gegelten Haaren zwischen all den Nerds und dachte nur: wow“, sagt Ahmadi. Er schaffte das Abi und studierte in England.

Junge Deutsche sind skeptisch, was die Durchlässigkeit der Gesellschaft angeht

Heute denkt er oft an einen Freund aus dem Märkischen Viertel. Der sei richtig gut in Mathe gewesen und endete doch als Meisterdieb und Junkie. „Niemand glaubte an ihn, niemand förderte ihn“, sagt Ahmadi.

Die Meinungsforscher des Allensbach-Instituts haben festgestellt, dass junge Deutsche aus bildungsfernen Schichten sehr skeptisch sind, was die Durchlässigkeit der Gesellschaft angeht. Gleichaltrige Schweden sind viel optimistischer.

„Manchmal sind es Zufälle, die einen Lebenslauf entscheiden“, sagt Siamak Ahmadi und erzählt von dem Mädchen, in das er sich mit 15 verliebte. Sie habe ihm zu verstehen gegeben, dass sie sich selbst für klüger hält und sprach lieber mit Jungen, die Interessanteres zu sagen hatten. „Das konnte ich unmöglich auf mir sitzen lassen“, sagt Siamak Ahmadi, „also legte ich los.“ (mit akü)

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