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Chinas größtes Kulturzentrum: Malen für Zahlen

Songzhuang war mal ein Bauerndorf, das Künstlern ein bisschen Freiheit versprach. Heute ist es Chinas größtes Kunstzentrum, und das Leben dort dreht sich nur noch um: Geld.

Einst war Wang ein wilder Schläger und gefürchteter Gangsterboss, hier in Songzhuang, einer kargen Vorstadtregion Pekings. Aber nachdem sie wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, hat sich in diesem Ort nahezu alles verändert. Alles. Selbst Wang. Sie, das waren fünf junge Kerle, die keinen richtigen Beruf hatten, merkwürdig gekleidet waren und lange Haare trugen. Sie nannten sich Künstler und fuhren ein Auto. Unmögliche und unglaubliche Erscheinungen für die etwa 1500 Bauern, die hier damals lebten. Das war im Jahr 1994.

Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Aus der kargen, von Wind und Wüstenstaub durchwehten Region wurde das bedeutendste Kunstzentrum Chinas. Aus den fünf jungen Künstlern sind Tausende geworden. Aus vielen Songzhuanger Einwohnern Kunstsammler. Wang ist einer von ihnen.

Wangs Haus ist schwarz gestrichen, das Eingangstor gleicht einem Tresorzugang. „Der Hausherr ist nicht da“, sagt ein Angestellter, lädt dennoch in Wangs Reich ein. Auf 400 Quadratmetern erstreckt sich ein Wirrwarr verschachtelter Räume, ein labyrinthischer Spaziergang durch Chinas Geschichte der vergangenen 45 Jahre. Räume, die Gewalt, Armut, Ängste in Zeiten der Kulturrevolution zeigen, aber auch solche, in denen sich das luxuriöse Leben der Privilegierten widerspiegelt. Irgendwann gelangt man in ein helles, freundliches Zimmer. Dort hat Wang seine besonderen Schätze ausgestellt. Es sind Kunstschätze, die er in Songzhuang gesammelt hat. Davon gibt es hier mehr als genug.

Songzhuang besteht aus 47 kleinen Dörfern, die ineinander übergehen. Eines von ihnen ist Xiao Pu. Sein Bürgermeister heißt Cui Dabai. Der 57-jährige Mann, freundlich lächelnd, erscheint hemdsärmelig im Atelier eines Künstlers. „Besser hier als im Büro, wenn ich über Songzhuang rede“, sagt Cui. In China hat er es zu gewissem Ruhm gebracht. Ihm war es letztlich zu verdanken, dass Songzhuang zu dem geworden ist, was es heute ist. „In meinem Ort, in Xiao Pu, hat alles angefangen“, sagt Cui mit stolzem Lächeln.

Hier, unweit des Hauses von Wang, ließen sich die ersten Künstler nieder, unter ihnen Yue Minjun und Fang Lijun, inzwischen zwei der international bekanntesten Maler Chinas. Sie waren aus Pekings Yuanmingyuan, dem ehemaligen Zentrum der chinesischen Avantgarde, wo sie sich gegängelt fühlten, geflohen, um außerhalb der Stadt, von Polizei und Regierung unbehelligt, ihre Kunst entspannter verwirklichen zu können. In Songzhuang kamen sie günstig an Höfe, deren Besitzer die Kargheit satthatten und in die Stadt gezogen waren. Hier lebten die Maler nach ihrem Sinn, in Ruhe, unkonventionell, zeitlos in den Tag hinein, ohne Fernsehen, Radio und Zeitung, viel Alkohol. Und wenn ihnen danach war, malten sie auch. Tür an Tür mit den Bauern führten sie ein Leben, das in seiner Kargheit einen Rückschritt bedeutete, für die Künstler indes eine fortschrittliche Andersartigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung, eine Kunstform des Lebens ausdrückte.

„Das unbeschwerte Leben in Songzhuang hat sich in der Kunstszene Pekings schnell herumgesprochen, Künstler aus der ganzen Stadt siedelten in unser kleines Bauerndorf über“, sagt Cui. Spätestens nachdem sich auch Li Xianting, Patriarch der Avantgardisten und berühmtester Kritiker der chinesischen Moderne, in Songzhuang niedergelassen hatte, wurde der Ort zum Magneten für Künstler aus ganz China. Bald waren alle freien Häuser verkauft, die Bauern begannen, Zimmer auf ihren Höfen zu vermieten. 2004 lebten mehr als 1000 Künstler in Songzhuang. Viele von ihnen hatten eine feste Arbeit aufgegeben und mussten sich ohne finanzielle Absicherung als Lebenskünstler beweisen. Das Geld reichte weder für Essen noch für die Miete. Die bezahlten sie dann mit ihren Kunstwerken.

In wenigen Dörfern am Rande Songzhuangs ist das karge Leben von einst noch zu sehen. Die Häuser sind klein. Am Straßenrand sind Garküchen aufgereiht, Frauen verkaufen Obst, Gemüse, getrocknetes Fleisch und Hühnerfüße. Die Infrastruktur ist verkommen. Die Waren werden auf kleinen Dreiradgefährten transportiert, und an den Häusern baumeln, abenteuerlich verknüpft, Elektrokabel. Müll liegt auf der Straße, gelegentlich wird er zusammengefegt und verbrannt, nachts, denn diese Entsorgungsart ist verboten. Schwarzer Rauch liegt dann in der Luft, so beißend, dass es einem Atem und Schlaf raubt.

Von Kunst zeugen die bunten Hinweisschilder auf Künstlerateliers. Viele der einst landwirtschaftlich genutzten Hallen wurden zu Kunstfabriken umfunktioniert. Gigantische Propagandafiguren stehen hier, Pflugscharen, Feldarbeiter, galoppierende Pferde, die Heroen mit wehenden Mänteln auf dem Rücken tragen. Etliche der alten Bauernhäuser wurden in Wohnateliers umgewandelt. Der bekannte Maler Yongbo Zhao, der zwischen Peking und München pendelt und ab dem morgigen Sonntag in der Berliner Zitadelle Spandau ausstellt, hat so ein Gebäude erworben. In dem leben nun seine Schwester und seine 84-jährige Mutter. Die alte Frau kann bis heute nicht fassen, dass ihr Sohn mit seinen Bildern derart viel Geld verdient, dass sie ihren Lebensabend auf einem stolzen Hof mit Garten und Teich verbringen kann.

Die meisten Künstler, die hier leben, sind jedoch arm, ärmer als die Bauern. Die haben immerhin noch Mieteinnahmen, die sie von Jahr zu Jahr anheben, denn Songzhuang steigt im Wert.

Einen Straßenzug weiter bahnt sich die Zukunft der alten Dörfer an. Es liegt bereits alles in Schutt und Asche. Ein paar Hunde streunen zwischen den Steinen der abgerissenen Höfe herum. Zwischen dem Schrott sind neue Straßentafeln aufgestellt, Hinweise darauf, wohin die Wege führen werden. Irgendwo zur Linken wird einmal das Ya Mei Museum of Art stehen, geradeaus die Xiaopu Art Station, zur Rechten ist die Chinese Collection of Art geplant.

Hinter dem geschrotteten Viertel stehen dicht aneinandergereihte Mietshäuser. Zu ihren Füßen liegen, scheinbar willkürlich hingewürfelt, große Quader und Rechtecke, modern angedacht, mehrheitlich jedoch ebenso unansehnlich wie die Wohnsilos. Es sind riesige Ateliers und Galerien, unter anderem das von Ai Weiwei, dem weltweit wohl berühmtesten zeitgenössischen chinesischen Künstler. Dazwischen stehen hohe Mauern, gespickt mit Glasscherben. Dahinter verbergen sich die Häuser und Studios der inzwischen arrivierten Künstler, Festungen gleich, bewacht von scharfen Hunden und geschützt durch zahllose Kameras. Innen muten die Gebäude wie Museen an, vollgepackt mit eigenen Kunstwerken und Antiquitäten aus der ganzen Welt.

Kunst gegen Wüste, so nennt Cui Dabai das Motto dieser gewaltigen Bauprojekte. Schnell hatte er das wirtschaftliche Potenzial von Kunst erkannt und sich in den Kopf gesetzt, dass Songhzuang zum wichtigsten Kunstzentrum des Landes werden solle. Die Bürger profitierten vom kulturellen Leben, mit diesen Worten konnte er Polizei und Regierung abwehren, als die irgendwann auch in Songzhuang erschienen, um, wie so oft in China, eine für das politische System kritische Künstlerszene zu kontrollieren.

Geschickt taktierte Cui Dabai auch, als das Verhältnis zwischen den zunehmend profitorientierten Bauern und den zahlungsunfähigen Künstlern schlechter wurde. Es ging um die Mietsteigerungen, aufgrund deren ein Abwandern der mittellosen Künstler drohte. „Für die habe ich dann günstige Ateliers bauen lassen, damit sie bleiben. Und sie sind geblieben“, sagt Cui. Den inzwischen erfolgreichen Künstlern wies er gesonderte Grundstücke zu. Auf einem sandigen Brachland an einem See genehmigte er den Bau einer Künstlerkolonie mit großen Grundstücken für Villen, Gärten und Ateliers. Um seinen festen Willen, eine große Künstlerkolonie entstehen zu lassen, zu unterstreichen, arbeitete er lange Zeit in seinem sogenannten Drei-Baum-Büro. Das bestand aus drei Bäumen, unter die er vier Schemel stellte. Im Freien, mit Blick auf ebenjenen See, um den die Häuser entstehen sollten, verteilte er die Grundstücke, prüfte die Pläne, besprach sich mit den Architekten und Künstlern.

Bei allem guten Willen, Cui Dabai legte mit der Künstlerkolonie auch den Grundstein für ein weiteres Auseinanderdriften von Künstlern und Bauern sowie der Künstler untereinander. Das bunte und kommunikative Zusammenleben wurde mit ausladender, bisweilen protziger Gefängnisarchitektur zugemauert. Hinter solchen Mauern leben nun auch die Künstler, mit denen alles begonnen hatte. Sie bewerten die Entwicklung in Songzhuang unterschiedlich. Manche schätzen die kulturelle Vielfalt, die sich aus all den zahlreichen Künstlern ergibt. Andere freuen sich über die Sicherheit, die der Stadtteil aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung ausstrahlt. So schnell, sagen sie, komme hier kein Bagger mehr her und reiße die Studios nieder. Manche beklagen, die künstlerische Qualität habe durch die Masse an Künstlern abgenommen. „Songzhuang darf nicht mehr wachsen“, fordern sie. Und Yue Minjun, dessen Bilder mittlerweile mehrere Millionen Dollar kosten, prognostiziert: „Die Phase des großen Reichtums wird nicht mehr lange dauern, deswegen sollten wir sie jetzt genießen.“ Liu Wei, ebenfalls international gefeiert, ist der Letzte der ersten Künstlergeneration Songzhuangs, der noch seinen alten Hof bewohnt. „Nicht mehr lange“, sagt er. „Ich lasse gerade ein neues Haus bauen, drüben in der Künstlerkolonie, wo alle leben, die erfolgreich sind.“ Wehmut klingt in seiner Stimme mit. Ihm ist, wie anderen Künstlern auch, anzumerken, dass sie die einstige Zeit vermissen, das enge Miteinander, die Ziele.

Heute leben hier, die Angaben schwanken, 7000 bis 10 000 Künstler. Sie wirken in 5000 Ateliers, 200 Galerien, 50 Museen. Und es wird weitergebaut. Allerorts stehen riesige Betongerippe, es wird gebohrt, gebaggert, gemauert. In Songzhuang sind mehr Kunsträume vorhanden als Menschen auf der Straße. Hin und wieder stranden ein paar Rentner oder Schulklassen im Ort, für viele Touristen allerdings ist das Songzhuanger Kunstzentrum vom Pekinger Stadtzentrum zu weit entfernt. 20 Kilometer. Die zu bewältigen, kann bei Pekings Verkehr eine Halbtagesreise bedeuten. Das erste Museum des Ortes ist bereits Vergangenheit, obwohl das wuchtige Ziegelgebäude eine besondere Geschichte hat. Einst war es von den Bauern finanziert worden, damit die Künstler eine angemessene Präsentationsplattform haben. 2005 wurde es eröffnet, sechs Jahre später wieder geschlossen. Die Besucher blieben aus, die Bauern wollten nicht weiter für den Unterhalt aufkommen, zumal ein neuer Investor auf Songzhuang aufmerksam geworden war: die Regierung.

Mit viel Kapital ist sie in das boomende Kunstgeschäft eingestiegen. Gefördert und gebaut wird seitdem das, was den Politikern gefällt, vorzugsweise Propagandakunst. Und zensiert, was missfällt. Songzhuang hat sich binnen neun Jahren in eine große Kunstfabrik gewandelt, in der neben moderner, hochwertiger Kunst auch Kitsch und Propagandakunst produziert wird, Bilder von damals, aus Zeiten der Kulturrevolution. Doch damals ist nicht mehr.

Die wohl größte, gleichzeitig schönste Veränderung aber hat sich bei den Bauern selbst vollzogen. Etliche stellten die Feldgeräte in den Schuppen und bauten ihre Höfe zu Läden um, in denen sie Malereizubehör verkauften. Jene Bauern, die das Glück hatten, einst Künstler beherbergt zu haben, die heute bekannt und berühmt sind, haben ihre Höfe zu Galerien umgebaut. Dort bieten sie die einstigen Mietzahlungen, die inzwischen wertvollen Bilder, zum Verkauf an. Andere Bauern bedienen den Markt mit industriell hergestellter kitschiger Fließbandkunst, billige, schnelle Malerei. Sie ist auf den Straßen zu kaufen, diese Trödelkunst, neben lebenden Schildkröten für die Suppe, Geschirr und Plastikramsch.

Viele der Bauern üben sich inzwischen auch selbst als Künstler. Sie fertigen, ganz traditionell, Kalligrafien an, malen Landschaften mit Felsen, Bäumen und Wasser. Einen begeisterten Sammler für ihre Werke haben die Bauernkünstler auch schon: Wang, den einstigen Schläger. Der hat ihre Gemälde im schönsten Zimmer seines Hauses aufgehängt. In der Mitte des Raums steht ein großer Tisch. Auf ihm liegen Pinsel, Tusche und ein Rollbild. Zu sehen sind die Konturen eines wilden Mannes neben einer schönen Frau. Wang hatte es gerade erst begonnen. Mit zarten Strichen.

Christiane Tramitz

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