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Zünftiger Bohémien. Was weiß dieser Mann über die Probleme in der Fläche? Christian Ude regiert München seit 1993.

© picture alliance / Sueddeutsche

Christian Ude im Wahlkampf: Eine große Landpartie

Christian Ude ist der Hoffnungsträger für einen Regierungswechsel in Bayern. Dafür muss sich der Münchner Oberbürgermeister in Gegenden begeben, in denen er noch nie war und wo viele Menschen ihn, den Städter, mit Misstrauen betrachten.

Es gibt Orte, da gehört er hin. Vor drei Stunden etwa, da stand Christian Ude im Senatssaal des Maximilianeums. Parkett, Kronleuchter, einen Wandteppich mit bayerischem Wappen im Rücken, zur Rechten ein Monumentalgemälde der Seeschlacht von Salamis. Und vor sich 300 Stadthonoratioren, die seiner festlichen Laudatio lauschen. Ein Pflichttermin. Der Oberbürgermeister von München ehrt drei Initiativen, die sich der Erinnerung an die NS-Zeit und des Kampfes für Toleranz und Demokratie widmen, mit dem Wilhelm-Hoegner-Preis. Es ist ein kleines Signal aus der Stadt, in der gerade das jahrelange Staatsversagen gegenüber einer rechtsradikalen Mörderbande verhandelt wird. Und es ist auch Erinnerung daran, dass es mit dem Namensgeber des Preises schon mal einen gab, der das Unmögliche hinbekommen hat. Sozialdemokrat zu sein. Und bayerischer Ministerpräsident.

Nun sitzt Christian Ude an einem anderen Ort, zwei Autostunden von München entfernt. Im Touristenzentrum eines Dorfes mit 2700 Einwohnern im Kreis Altötting, er blättert im Goldenen Buch der Gemeinde. Seinen roten Schlips hat er gegen eine bestickte Weste eingetauscht, die Anzugjacke ist dem Trachtenjanker gewichen. Auch das Auto, mit dem er auf dem Marktplatz vorgefahren ist, musste gewechselt werden. Es ist nicht mehr der Dienstwagen des Großstadtbürgermeisters, sondern sein Wahlkampf-Audi. Kennzeichen: M-CU 1509. Die Buchstaben sind Udes Initialen, die Zahl verweist auf den Wahltermin. Am 15. September würde der gelernte Zeitungsjournalist, mehrmalige Städtetagspräsident, weltberühmte Oktoberfestbier-Anzapfer und populäre Rathausregent gerne ein zweiter Wilhelm Hoegner werden.

Für Bayerns Sozialdemokratie, die bei der letzten Wahl auch von der historischen Abstrafung der Nach-Stoiber-CSU nicht profitieren konnte und mit 18,6 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte einfuhr, ist der 65- Jährige endlich mal wieder ein Hoffnungsträger. Viermal haben ihn die Münchner zum OB gewählt, 2008 mit fast 67 Prozent. Wer, wenn nicht Ude, der Schwabinger, könnte der übermächtigen CSU Paroli bieten – und sie nach 56 Jahren auf die Oppositionsbank befördern, wenn auch mit der Hilfe von Grünen und Freien Wählern?

Als der Schwabinger vor zwei Jahren seine Kandidatur bekannt gab, verpasste dies seinen chronisch frustrierten Genossen regelrechte Adrenalin-Schübe. Im Dezember 2011 lag das denkbare Bündnis zwei Punkte vor der CSU. Danach aber war der Schwung raus. Ude sei zu früh gestartet, sagen sie bei den Grünen. Er habe die Zeit gebraucht, halten seine Truppen dagegen, um sich bekannt zu machen, die Partei neu aufzurichten. Bayern ist ja nicht bloß die Boomtown im Süden. 60 Prozent leben in Ortschaften mit weniger als 20 000 Einwohnern – mit anderen Problemen, einer ganz anderen Weltsicht als die Städter drunten an der Isar, die der Bohémien mit dem Schnauzbart, so volksnah und unaufgeregt zu regieren versteht.

Marktl am Inn also, Montag Nachmittag halb fünf. Das Rathaus ist beflaggt, ein kleines Grüppchen Anzugträger hat den Ankömmling in Empfang genommen. In zwei Stunden wird er im Festzelt erwartet, bis dahin bleibt Zeit für die Förmlichkeiten. Der Ort wirkt leer um diese Uhrzeit. Das Wirtshaus hat geschlossen, das Café ebenfalls, und die Metzgerei schon seit 1997, wie ein handgeschriebener Zettel im Schaufenster kundtut. Unter dem Totenbildchen des einstigen Betreibers. Dabei handelt es sich bei dem Ort um einen Touristenmagneten. Verhundertfacht habe sich die Zahl der Tagesgäste seit 2005, berichtet Bürgermeister Hubert Gschwendtner dem Gast. „Von 2000 auf 200 000 im Jahr.“ Der Grund heißt Joseph Aloisius Ratzinger. Deutschland war Papst geworden, alle wollten seinen Geburtsort sehen. Die Gemeinde stampfte einen Busparkplatz aus dem Boden, das Geburtshaus wurde Museum und Andenkenladen. Die Marktler haben den Ansturm bewältigt. Und zu nutzen verstanden. Wie die Bäckerei Winzenhörlein, die immer noch „Vatikanbrot“ und „Benedikttorte“ offeriert.

Er steckt im Korsett seines Amtes fest.

Heimspiel. Ude mit seiner Frau Edith Welser-Ude bei der Eröffnung des Landwirtschaftsfestes in München.
Heimspiel. Ude mit seiner Frau Edith Welser-Ude bei der Eröffnung des Landwirtschaftsfestes in München.

© dpa

Ude nickt anerkennend, er war noch nie hier. Dabei hatte er seinem Parteifreund Gschwendtner die Visite schon bei Ratzingers Amtseinführung versprochen – aus der Überraschung heraus, dass der Geburtsort des Papstes nicht „rabenschwarz“ ist, wie von ihm vermutet, sondern seit 17 Jahren einen SPD-Bürgermeister hat. „Parteipolitik spielt bei uns keine große Rolle“, wiegelt dieser ab. Doch der Kandidat kann es trotzdem nicht lassen, eine Parallele zu Bayerns Bischofsstädten zu ziehen. München, Freising, Eichstätt, Passau, Bamberg, Würzburg – „alles sozialdemokratisch regiert“, sagt er. Der darauf angesprochene Benedikt habe dies zwar leider nicht mit dem Hinweis auf katholische Intelligenz kommentiert, sondern nur mit dem Satz, dass "die Wege des Herrn unerforschlich" seien. Aber vielleicht eigne sich dieses Zitat im September ja zum nochmaligen Gebrauch - für alle, die dann auch den Machtwechsel nicht fassen könnten.

Ude gibt sich siegessicher. Bloß kein Zweifel daran, dass die Vertreibung der CSU diesmal wirklich zu schaffen ist. In den vergangenen Monaten fiel ihm das Mutmachen nicht leicht. Die SPD sackte ab auf 18 Prozent, zu den Grünen fehlten nur zwei Punkte. Bei der Frage, welche Partei am besten zu Bayern passe, lagen die Sozis sogar hinter ihnen. Und der Kandidat steckte lange im Korsett. Neben seinem Job im Rathaus war er auch als Städtetagspräsident eingespannt – ein Posten, den Ude erst im April abgegeben hat. Das Bekanntmachen im Land lief nebenher, je nachdem, ob grade noch Platz im Terminkalender war. Und überall lauerten Gefahren. Ude verortete Aschaffenburg nach Oberfranken, er machte Bamberg dreimal so groß, wie es ist. Typisch Großstadtbürgermeister, lästerte die CSU. Vom Land keine Ahnung. So einer will Bayern regieren. Den interessieren doch nur seine Münchner.

Ein wunder Punkt für den Kandidaten. Jeder habe „seine eigene Sozialisation“, sagt er trotzig. Dass er nun mal „eine Großstadtpflanze“ und tatsächlich „nicht jeder agrarpolitischen Diskussion gewachsen“ sei. Aber dass es im Land so ungleich zugeht, dass der Süden brummt, während anderswo Ärzte fehlen und Schulen dichtmachen müssen, sei ja wohl denen zu verdanken, die Bayern ein halbes Jahrhundert regiert hätten. Er jedenfalls werde den Teufel tun, noch mehr Industrie und Kultur nach München zu ziehen – wo dort jetzt schon alle unter dem Verkehr stöhnten und ihre Mieten kaum zahlen könnten.

Die SPD suchte den wunden Punkt der anderen – und fand ihn mit ihrer „Drehhofer“-Kampagne. Eine Sammlung aller Kehrtwenden des Parteichefs, die diesen maßlos geärgert haben soll. Weil sich das Wortspiel beim Wähler festsetzt. Und weil es Horst Seehofers nachweisbaren Populismus zur Prinzipienlosigkeit erklärt. Ob Studiengebühr, Donauausbau oder Energiewende – wenn man alles addiere, was die CSU dank der SPD inzwischen anders sehe, spottet Ude, werde er der erste Regierungschef sein, der schon zum Amtsantritt eine beachtliche Leistungsbilanz vorlegen könne.

Momentan besorgen die Regierenden ihren Ansehensverlust ohnehin allein. Den Anfang machten sie Ende Oktober – mit ihrem Einmischungsversuch beim ZDF. Im Februar dann das Einknicken bei den Studiengebühren, aus Angst vor einem Volksentscheid. Es folgte die Selbstanzeige des Steuerhinterziehers und CSU-Werbeträgers Uli Hoeneß mitsamt dem kleinlauten Eingeständnis, dass der Kauf von Steuer-CDs durch das SPD-Land Nordrhein-Westfalen so dumm nicht war. Und schließlich das Bekanntwerden der Familienpatronage im Landtag.

Für Ude geht es jetzt darum, das alles warm zu halten. Soeben hat er im Gästebuch das Signum des zurückgetretenen Fraktionschefs entdeckt. „Hoho“, ruft er, „der Schüttelschorsch!“ Im März sei der also auch in Marktl gewesen, „damals noch als ehrwürdiger Repräsentant der bayerischen Regierungsmacht“. Mehr muss er nicht sagen. Jeder hier kennt den Fall des CSU-Politikers Georg Schmid, der seine Frau großzügigst aus der Staatskasse entlohnt und sie womöglich auch als Scheinselbständige beschäftigt hat. Später im Bierzelt wird Ude verlangen, dass der für seine Neigung zum Händeschütteln Berüchtigte auch nicht mehr für den Landtag kandidieren solle. Die Wunscherfüllung dauert zwei Tage. Mit der Rücktrittsforderung für den Chef des Haushaltsausschusses, der seine Jungs als Computerexperten bezahlt hat, geht es noch schneller. Während Ude sie ausspricht, wird ihm ein Zettel hoch gereicht: Rücktritt bereits erfolgt.

Auch Udes Dreierbündnis ist eine wacklige Sache.

Gastredner. Christian Ude spricht in Augsburg auf dem Sudetendeutschentag.
Gastredner. Christian Ude spricht in Augsburg auf dem Sudetendeutschentag.

© dpa

Die Zeiten haben sich geändert, auch in Bayern. Die Wähler vergeben ihrer CSU nicht mehr jede Spezlwirtschaft. Und weil sie das weiß, wird die mächtige Staatspartei nervös. Dass Ude im Zuge der Affäre den Rücktritt von gleich fünf Kabinettsmitgliedern fordert, ist ihr nicht Anlass zu Spott, sondern zu heller Empörung. Schließlich kann Horst Seehofer, auch wenn er jetzt noch sehr den Saubermann gibt, nicht ein Drittel seiner Regierungsmannschaft entlassen. Drei Prozent, schätzen Meinungsforscher, könnte die Affäre die CSU kosten. Auf den ersten Blick ist das wenig. Doch auch Seehofer selbst sieht die absolute Mehrheit auf der Kippe. Und wenn die Bayern-FDP weiter nicht zu Potte kommt, haben die Christsozialen keinen Koalitionspartner.

Andererseits ist auch Udes Dreierbündnis eine wacklige Sache. Ob die Freien Wähler am Ende mit ihm und den Grünen gehen werden, ist ungewiss. „Ich bin mir nicht sicher“, sagt der SPD-Kandidat. Er hofft natürlich, dass die Unabhängigen den Regierenden nichts vergessen. Nicht ihren Habitus, dieses Von-Oben-Herab. Und auch nicht, wie sie ihren Chef als Bauerntölpel hingestellt, ihn wegen seines niederbayerischen Dialekts veräppelt haben. Tatsächlich macht Hubert Aiwanger aus seiner Präferenz für den Ude keinen Hehl - sein Frozzeln über den Münchner "Sonnenkönig" ist als Sympathiebekundung zu verstehen. Doch Ude weiß auch, dass große Teile der Freien Wähler CSU-sozialisiert sind – und womöglich mehr Angst vor rot-grüner Politik haben als vor der Ewigdominanz der Schwarzen. Da hilft es wenig, dass die Grünen, mit denen der OB seit fast einem Vierteljahrhundert im Rathaus kooperiert, kaum Probleme bereiten. Und dass in Bayern nicht mal der größte Oberrealo über ein schwatz-grünes Bündnis zu spekulieren wagt. Ohne die Dritten im Bunde, die durchaus ein zweistelliges Ergebnis schaffen könnten, geht in Sachen Machtwechsel gar nichts.

Ude hat jetzt auch Benedikts Geburtshaus besichtigt, er hat die Kindheitsfotos des kleinen Ratzinger betrachtet, respektvoll in den Büchern des Theologen geblättert und zur Kenntnis genommen, dass man dessen Geburtsstunde dort, wo die Wiege stand, jährlich mit einer Andacht begeht. Er hat kundgetan, dass er wie Benedikt schon als Kind wusste, was er werden wollte (Bürgermeister). Und er hat angemerkt, dass er die Kirchen „nicht mehr als Hort der Unfreiheit“ empfindet wie noch in Studentenjahren, sondern als Verbündete – im Kampf gegen Turbokapitalismus und Ausländerfeindlichkeit. Dann hat er sich kurz im Rathaus zurückgezogen und auf den dritten Rollenwechsel dieses Tages vorbereitet. Den Bierzelt-Ude.

Ein Festplatz im Dämmerlicht. Autoscooter, Schießstand, Losbude. Im Zelt brüllen Biertrinker gegen die Blasmusik an. Gut 700 sind gekommen, ein Viertel der Dorfbewohner. Passt genau, 25 Prozent ist Udes Zielmarke für die Wahl. Zum Einzug gibt’s den Defiliermarsch, wie bei der CSU auch. Die SPD lasse sich „nicht zu Bayern zweiter Klasse abstempeln“, verkündet der Redner. Erster Beifall.

Ude wirkt klein auf dem Podium, sucht nach dem richtigen Ton. Dann hat er ihn, hat auch sein Publikum. Mit den Themen Infrastruktur und Schulen, der Vernachlässigung des ländlichen Raumes, den Versprechen der CSU, der „Unanständigkeit“ ihrer Repräsentanten. Ude spricht ohne Manuskript, problemlos findet er seine Übergänge und Pointen. Danach, vor dem Zelt, werden sie ihm sagen, dass er ruhig etwas aggressiver auftreten könne. Das komme noch, versichert sein Sprecher, da sitzen er und Ude bereits wieder im Auto, um nach München zurückzugelangen. Die Wähler wollten „ja auch keinen, der monatelang nur rumkrakeelt“.

Vor allem wollen sie keinen, der sich verstellt. Ude sitzt still auf dem Beifahrersitz, er freut sich auf sein Gläschen Rotwein zu Hause in Schwabing. Das Anstrengende seien gar nicht die langen Tage, sagt er, die Auftritte und Rollenwechsel. Gewöhnungsbedürftig sei die „Bierzelt-Akustik“, das laute Sprechen. Aber danach schlafe sich’s besonders gut.

Weshalb er sich das antut, nach all den Jahren in der Kommunalpolitik und in seinem Alter? Ihn reize eben noch mal die Herausforderung, das ganz große Ziel. Und wenn es doch nichts wird im September? Und er 2014 auch den Rathausstuhl freigeben muss? In ein Loch werde er schon nicht fallen, sinniert der Kandidat. Da ist das Ferienhaus auf Mykonos, da sind seine Chinareisen, Bücher, Vorträge. Ein Filmprojekt vielleicht auch mit seiner Frau, über Wandmalereien ...

Nein, er muss nicht, er will. Mitte Juli nimmt sich der OB zwei Monate Urlaub. Unbezahlt, nur für den Wahlkampf. Schließlich habe er keinen Staatsapparat hinter sich, der sich um nichts anderes kümmere. „David gegen Goliath“, brummt Ude. Aber man wisse ja, wie die Geschichte ausgegangen sei.

Der Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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