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Eine Zufallsbekanntschaft am Strand. Ein schwarzer Junge und ein weißer Junge wagen sich gemeinsam ins kalte Wasser.

© Barbara Junge

Civil Rights Act: "Aber wir leben getrennt"

Sagt Nicole, 30 Jahre alt, schwarz. Vor 50 Jahren endete in den USA offiziell die Rassentrennung, und heute ist ein Afro-Amerikaner Präsident – doch wie viel bedeutet das wirklich?

Auf dem gelb-braunen Sand an der Chesapeake Bay kullert ein orangefarbener „Brazuca“, der Adidas-Fußball zur Weltmeisterschaft. Ein weißer Junge kickt mit seinem Vater am Strand. Wenige Meter entfernt hockt ein schwarzer Junge im Sand. Sehnsüchtig schaut er zu, kommt dann näher und fragt, ob er mitkicken darf. Bald spielen die beiden Jungs miteinander. „Lass uns ins Wasser gehen“, ruft der Schwarze nach einer Weile. Nebeneinander spurten der kleine schwarze Junge und der kaum größere weiße Junge über den Sand zum kalten Wasser des Atlantik. Dieses Mal zögert der Weiße. Der Kleine reicht ihm die Hand und zieht ihn ins Wasser. Die Szene, die sich vor ein paar Tagen am „Sandy Point Beach“ in Maryland abspielt, wirkt wie ein politisch-korrekter Spot der Fifa-Antirassismus-Kampagne „Say no to racism“: Kinder überwinden die Trennung der Hautfarben.

Der schwarze Junge ist neun Jahre alt und heißt Dequane, seine Stiefmutter Nicole beobachtet die Szene an der Chesapeake Bay, eine Autostunde von der Hauptstadt Washington entfernt. Die 30-Jährige hat ein freundliches Lachen und spricht mit einem harten Akzent. Neben Nicole, die als Medizinassistentin in einem Krankenhaus arbeitet, planscht ihre Tochter Aubrey. Die Familie lebt in Remington, einem Stadtteil von Baltimore an der amerikanischen Ostküste. Dort spielt Dequane nicht mit weißen Jungs. Ihr Viertel von Remington ist fest in der Hand von Afro-Amerikanern.

Im modernen Amerika, in dem zum ersten Mal in der Geschichte ein Afro-Amerikaner Präsident ist, sagt Nicole, gebe es auch 50 Jahre nach der Aufhebung der Rassengesetze noch immer eine Art Naturgesetz, das Schwarz und Weiß separiert. „Wir kommen mittlerweile gut miteinander zurecht“, sagt sie. „Aber wir leben getrennt.“

Am 2. Juli 1964 hat der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson seine Unterschrift unter den „Civil Rights Act“ gesetzt. Es war ein historischer Moment: Hotels, Kinos, Einkaufzentren, Bäder, Bibliotheken, alle öffentlichen und öffentlich zugänglichen Einrichtungen durften Schwarzen den Zutritt ab sofort nicht mehr verwehren oder ihnen gesonderte Plätze zuweisen. Diskriminierung am Arbeitsplatz ist seitdem ebenso verboten. Knapp zehn Jahre nach dem Verbot der Segregation in öffentlichen Schulen beendete Amerika damit die Rassentrennung.

Bei der Unterzeichnung rief der Demokrat Johnson die Amerikaner dazu auf, „die letzten Überbleibsel der Ungerechtigkeit in Amerika auszuräumen“ und „die Quellen des rassistischen Gifts trockenzulegen“.

Johnson hat Historisches geschaffen, aber sein Wunsch blieb unerfüllt. Rassismus ist noch immer eine der großen Scheidelinien der US-Gesellschaft. Erst vor ein paar Wochen schüttelte der kalifornische Milliardär Donald Sterling die amerikanische Gesellschaft durch, als er seine Ex-Geliebte am Telefon beschimpfte, sie solle sich nicht mit Schwarzen sehen lassen. Sterling, dem (noch) das Basketballteam Los Angeles Clippers gehört, ist bekannt dafür, seit Jahrzehnten Mieter in seinem kalifornischen Häuserimperium zu diskriminieren und zu schikanieren. Ein Skandal wurde es erst, als seine reaktionäre Sicht heimlich mitgeschnitten und veröffentlicht und der Rassismus damit unüberhörbar wurde. Der weiße Milliardär ist einer jener rareren Urzeitrassisten, die es bis heute nicht einmal überwunden haben, dass Schwarze nicht nur die gleichen Rechte wie Weiße besitzen, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert sind.

Verbreiteter ist dagegen eine neue Form der Segregation, die die Hautfarben trennt. Es ist eine, die sozial siebt, dabei aber vor allem Schwarze aussortiert. „Die Rassentrennung verläuft heute entlang der sozialen Mobilität“, konstatiert Richard Reeves, Wissenschaftler und Autor für die Denkfabrik Brookings in Washington. Sie markiert die ungleichen Aufstiegschancen von Schwarz und Weiß. Rosa Parks und Martin Luther King zum Trotz.

Am Abend des 1. Dezember 1955 hatte sich die Kaufhausangestellte Rosa Parks in Montgomery, Alabama, in einen Bus gesetzt. Sie war sitzen geblieben, obwohl der Fahrer ihren Platz kurzerhand als einen „weißen“ Sitzplatz definierte. Ihre Weigerung brachte sie aufs Polizeirevier und gab den Anstoß zu einer sozialen Revolution. Busladungen voller Schwarzer strömten in den Süden, um gegen die Rassentrennung zu protestieren. Gemischte Studentengruppen besetzten für Weiße reservierte Plätze in durchschnittlichen amerikanischen Restaurants und ließen sich bespucken oder schlagen. Und am 28. August 1963 mobilisierten Martin Luther King und andere Bürgerrechtler mehr als 200 000 Menschen nach Washington, um ihre Rechte einzufordern.

Ohne Rosa Parks, Martin Luther King und all die namenlosen Demonstranten von einst wäre Barack Obamas Präsidentschaft im Oval Office undenkbar. Ein Afro-Amerikaner im Weißen Haus ist ein Sinnbild dafür, wie viel sich seit Lyndon B. Johnson verändert hat. Einerseits. Andererseits zeigt die Umgebung desselben Hauses, wie wenig das noch immer ist.

Die soziale Realität Amerikas im Jahr 2014 hat zwei vollkommen unterschiedliche Gesichter, je nachdem, ob es um den Alltag fünf Kilometer nordwestlich des Regierungssitzes an der 1600 Pennsylvania Avenue geht – oder fünf Kilometer Richtung Südosten.

Den Anacostia River überqueren im District of Columbia fünf Brücken. Über eine von ihnen führt die Benning Street Richtung Südosten. Am nordwestlichen Ufer stehen noch ein paar schmuddelige einstöckige Wohnhäuser. In einem Hof werden Autoreifen verkauft, ein nächster Shop bietet Alkohol an. Ein paar junge Männer mit dunkler Haut und weißen Unterhemden hängen vor dessen Tür ab. Kurz vor der Brücke zieht sich das staubige Gelände des örtlichen Stromversorgers „Pepco“ über mehrere hundert Meter entlang, Transformatoren, Strommasten, Kabel belagern das Terrain. Halb unter der Metrobrücke vorbei an weiten Leerflächen leitet die Benning Street über den Fluss.

Jenseits der Brücke sind auf den Straßen nur noch Menschen mit dunkler Haut zu sehen. Auch in den Autos sitzen nur noch Schwarze. An einer Kreuzung verkaufen schwarze Straßenhändler gefälschte Designer-Sonnenbrillen. Die Häuser sind schlicht, manche heruntergekommen, alte Pick-up-Trucks stehen hier und da auf Schotterplätzen neben den Häusern, als wären sie seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Entlang der Straße ziehen sich rot-braun verklinkerte Sozialwohnungsblöcke ohne jeden Schnörkel, der „Arc Gospel“-Tempel konkurriert mit dem „Free Gospel Deliverance“-Tempel um gläubige Seelen.

Die Mittelschule an der 49. Straße besuchen 99 Prozent Schwarze. Wer in die Schule will, muss die Metalldetektorschleuse hinter der gläsernen Eingangstür passieren. Daneben wacht eine Sicherheitsbeamtin, wie in fast allen Schulen hier. Im Nagelstudio an der Pennsylvania Avenue arbeitet eine Maniküre namens Wowa. „Weiße Hände gehören nicht zur Kundschaft“, sagt sie. Gegenüber wirbt in einer Ladenzeile ein Shop mit der zweifelhaften Parole: „Wir zahlen für Handys Bargeld.“

Eine Erhebung des US-Bildungsministeriums zeigt, dass die Mehrzahl afro-amerikanischer Kinder auf Schulen geht, die fast ausschließlich von anderen afro-amerikanischen Kindern besucht werden und schlechter ausgestattet sind als die von weißen Kindern. Afro-amerikanische Kinder werden in der Schule häufiger suspendiert und erreichen seltener einen College-Abschluss als weiße Schüler. Dabei schreitet die Segregation angeblich sogar wieder voran, wie eine Forschungsgruppe der Universität von Kalifornien festgestellt hat, insbesondere an der Nordostküste der USA und vor allem in New York.

Rassismus ist für Afro-Amerikaner auch ein finanzielles Problem. Ein durchschnittlicher weißer Haushalt besitzt das 14-Fache eines schwarzen Durchschnittshaushalts, 91 405 Dollar Durchschnittvermögen stehen 6446 Dollar gegenüber. Die knapp 13 Prozent Schwarzen der amerikanischen Bevölkerung machen einen unproportional hohen Anteil am unteren Ende der Einkommensskala aus. Wie Zahlen des Pew-Instituts zeigen, tendieren schwarze Bevölkerungsteile stärker dazu, in ihrer sozialen Schicht am unteren Ende der Gesellschaft zu bleiben, als das weiße tun. „Der Graben“, urteilt Richard Reeves, liegt heute „zwischen den Chancen eines als weiß geborenen und eines als schwarz geborenen Kindes.“

Der Ausflug in die andere Richtung, hinauf in den Nordwesten Washingtons, ist in jeder Hinsicht ein Kontrastprogramm. In Forrest Hills stehen die meist zweistöckigen Häuser aus rotem und sandfarbenem Backstein oder hellem Holz einzeln, jedes für sich, und sie sind von gepflegten Gärten und Wiesen umgeben. Hohe Bäume werfen einen kühlenden Schatten, so wie es die Amerikaner lieben. Aber Forrest Hills ist nicht nur grün, es ist vor allem weiß. „Menschen suchen gerne die Nähe derer, die ihnen ähnlich sind“, sagt Lucia Aron, eine Anthropologin, die hier in einem hohen Haus mit hellblauer Holzverkleidung lebt. Ein Faktor sei sicher die Hautfarbe. Mehr noch aber bestimme ein ähnliches soziales Niveau die Gemeinsamkeit.

Die Bevölkerung im Nordwesten gehört zum exquisitesten Teil der amerikanischen Hauptstadt. Hier residieren nicht nur die meisten Botschaften. Die Bewohner haben ihren Arbeitsplatz auffällig oft rund um das Capitol, die Ministerien oder die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Diplomaten, Fernsehgrößen und Immobilienmakler ergänzen das Portfolio der Bewohner. Wenn Menschen mit schwarzer Hautfarbe in Forrest Hills auftauchen, dann bringen sie zumeist Post oder packen Möbel. Die Latinos, die auf jedem zweiten Grundstück zu sehen sind, reparieren das Dach oder stutzen den Rasen.

Zwischen dem weißen Nordwesten und dem schwarzen Südosten liegt das Viertel Mount Pleasant. Hier leben viele Einwanderer aus Süd- und Mittelamerika, sie sind eine Art Puffer zwischen dem reichen weißen Nordwesten und dem armen schwarzen Südosten. Auch dies ist ein Teil der Wahrheit des Amerikas des Jahres 2014: Latinos haben die Afro-Amerikaner inzwischen mit knapp 17 Prozent als größte Minderheit überholt. Sie haben sich zwischen Schwarz und Weiß geschoben, in Stadtteilen wie Mount Pleasant, aber auch in der Gesellschaft insgesamt.

Wirklich ausschließlich „weiße Viertel“ sind zumindest in Metropolen, mittlerweile eine Seltenheit. Und fast selbstverständlich gibt es eine wohlhabende Schicht erfolgreicher schwarzer Rechtsanwälte, Lobbyisten, Politiker oder Fernsehstars. Es gibt Gegenden nordöstlich der Hauptstadt, in denen bevorzugt die schwarze Oberschicht lebt. Aber während sich Afro-Amerikaner in die gehobenen, zumeist weiß-dominierten Schichten der US-Gesellschaft hocharbeiten können, lassen sie eine große geschlossene schwarze Gesellschaft wie in Anacostia hinter sich zurück.

Wie keinem anderen Thema hat sich Barack Obama in seiner zweiten Amtszeit der Förderung von Chancengleichheit und sozialem Aufstieg verpflichtet gezeigt. „Diese Statistiken brechen uns das Herz“, sagte der Präsident, als er im Februar die „My Brother’s Keeper“-Initiative zur Förderung junger Afro-Amerikaner startete, die er mit 200 Millionen Dollar fördern möchte. Auch er habe zu der Generation schwarzer Jugendlicher in den USA gehört, die häufiger scheitern als andere ihres Alters. „Ich habe falsche Entscheidungen getroffen“, sagte Obama. Von den Jugendlichen erwarte er, dass sie bessere Entscheidungen treffen, statt sich zurückzulehnen und ihr Scheitern der Gesellschaft anzulasten.

Als Barack Obama ins Amt gewählt wurde, hofften viele Liberale im Land auf eine neue Ära der Harmonie zwischen den Hautfarben. Das Aufbruchsgefühl, das die Wahl begleitet hatte, ist inzwischen verflogen. Außer Ankündigungen und Ansprachen ist nicht viel passiert. Kritiker in der schwarzen Bevölkerung halten Obama vor, seine Wurzeln vergessen zu haben. Mark Neal, Professor an der Duke Universität für afrikanische und afro-amerikanische Studien, warf Obama nach der Ankündigung seiner Initiative vor, die systematische Form des Rassismus zu vernachlässigen. Und Eduardo Bonilla-Silva, ebenfalls Professor an der Duke-Universität in North Carolina, sagt in einem Interview: „Der Obama-Effekt lässt schnell nach. Einen schwarzen Präsidenten zu haben, bedeutet in unserem alltäglichen Leben nur wenig.“

Nicole, die Stiefmutter von Dequane, steht am Strand der Chesapeake Bay in Maryland und schaut aufs Wasser. Sie sei zufrieden in Remington, in ihrem schwarzen Viertel in Baltimore, sagt sie. „Ich mag die Gegend, ich mag die Leute. Ich könnte mehr erreichen.“ Sie glaubt an den amerikanischen Traum, dass es nur an der eigenen Entscheidung liegt, dort zu bleiben, wo man hineingeboren wird, oder sich weiterzuentwickeln, es vielleicht auch bis ganz nach oben zu schaffen. „Wir müssen Obama nur anschauen und dabei verstehen, dass uns alles offensteht.“ Aber für Nicole würde es bedeuten, aus dem eigenen Milieu hinauszutreten, Remington hinter sich zu lassen, ihre schwarze Umgebung. Nicole müsste etwas weißer werden. Das alles will sie nicht, sie sagt: „Mir reicht, was ich habe.“

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