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Seit Wochen schon formierte sich Widerstand gegen Flüchtlinge in Clausnitz. Zunächst stumm, dann lautstark mit Gebrüll.

© imago/xcitepress

Clausnitz in Sachsen: Die einen fürchten um die Ordnung, die anderen um ihr Leben

Wütend und mit viel Geschrei, so haben sie hier einen Bus mit Flüchtlingen gestoppt. Tage später ist im sächsischen Clausnitz eine Ruhe eingekehrt, die täuscht. Eine Reportage.

Ein Sturm fegt über die Felder, und wenn er fertig ist, wird er fünf Zentimeter neuen Schnee gebracht haben. Der Erzgebirgskamm wird wieder weiß sein und die Ruhe fast vollkommen, wie so oft in diesem Winkel, wo Tschechien nur ein paar Autominuten entfernt und der Winter kälter ist als anderswo in Deutschland.

Am Samstagabend ist es still hier oben, auch in Clausnitz, jenem 850-Einwohner-Ort in Sachsen, in dem es zwei Tage zuvor sehr laut gewesen ist. So laut, dass sein Name bis nach Tripoli drang.

Dabei sind schon wieder Fremde hier. Ungefähr 100 sind es, angereist mit Autos, auf deren Nummernschildern vorn ein L steht, DD für Dresden und C für Chemnitz. Ein M ist zu sehen und Nummern aus Nordrhein-Westfalen, erzählen Leute, die dabei gewesen sind. Die Autos sind in der Nähe der neuen Clausnitzer Asylbewerberunterkunft geparkt, die Angereisten stehen bei den Häusern, sie reden miteinander, sie machen keinen Krawall. Eine Abordnung löst sich aus der Menge und bringt Geschenke rein.

Sie sind eine Solidaritätskundgebung und bleiben nicht lange. Als im Fernsehen „Das Glückwunschfest“ läuft, eine Florian-Silbereisen-Show aus der Sachsenarena in Riesa, sind die meisten der solidarischen Großstädter wieder weg.

Ein paar Stunden zuvor: Auf den Straßen ist kaum jemand zu sehen, nur vor der Flüchtlingsunterkunft treffen sich ein paar Leute und reden. Drei Wohnblöcke sind es, fast die letzten vor dem Ortsausgangsschild. Die Untergeschosse standen zuletzt leer, nun sind dort die Flüchtlinge eingezogen. Über ihnen wohnen die Alteingesessenen. An eine gute Nachbarschaft glauben nur wenige.

Die Nachbarn ziehen aus, sie wollen nicht neben Flüchtlingen leben

Susann und Daniel Korb packen gerade ihre Sachen. Das Paar zieht aus – wegen der Flüchtlinge. Die beiden, Mitte zwanzig, haben das bereits Anfang Dezember beschlossen, als bei einer Bürgerversammlung verkündet wurde, dass Asylbewerber ihre neuen Nachbarn werden. „Die anderen beiden Mietparteien in unserem Haus, also die deutschen, haben auch schon gekündigt“, sagt Daniel Korb. „Wir wollen uns in unserem Zuhause wohlfühlen, aber das ist ja nicht mehr gewährleistet. Wir wollen nicht in einem sozialen Brennpunkt wohnen, wo vielleicht ständig Demos sind. Von Linken, Rechten, und dann brennen vielleicht noch Autos.“ Weil sie sich jetzt außerdem als Minderheit im Haus fühlen, ziehen sie einige hundert Meter weiter, ins Clausnitzer Unterdorf. Die Flüchtlinge wollen sie gar nicht erst kennenlernen.

Einer von ihnen ist Luai Khatum. Der 15-jährige Libanese hat einen Großteil des Samstags am Fenster seines neuen Zuhauses verbracht und beobachtet, was sich draußen so tut. Er winkt und öffnet die Haustür. Aufgeregt zeigt er auf sein Handy: „Schau, ich bin auf Facebook.“ Eine seltsame Sensation, plötzlich ist überall sein Gesicht zu sehen. Aber in was für einer Situation: Zwei Videos, die sich inzwischen in ganz Deutschland und auf der Welt verteilt haben – bis hin zu seiner Mutter, die noch in Tripoli sei – zeigen Luai Khatums Ankunft in Clausnitz. Zusammen mit zwei Dutzend weiteren Flüchtlingen, darunter sein Bruder und sein Vater – ansonsten vor allem Syrer, Afghanen und Iraner –, sitzt er in einem Bus, der umzingelt ist von etwa 100 grölenden und aggressiven Menschen.

„Wir sind das Volk!“, laut und deutlich, erhobene Arme, vorn am Bus leuchtet der Name des Fuhrunternehmens: „Reisegenuss“. Einige der Lauten haben die Straße mit Autos und einem Schneepflug blockiert. „Verschwindet von hier! Ab nach Hause! Widerstand, Widerstand!“, brüllen sie. 28 Polizeibeamte sind auch da, unter ihnen sechs Bundespolizisten. Sie schaffen die Ankömmlinge ins Heim, es ist ein Spießrutenlauf durch ein Spalier von erhobenen Fäusten, begleitet von Gejohle. Schließlich steht einer der Beamten vor Luai Khatum. Er packt den Jungen und zerrt ihn aus dem Bus.

Luai Khatum ist ein aufgeweckter junger Mann, vor Fremden hat er keine Angst, sagt er. Die meisten, die er auf seinem Weg nach Mitteleuropa getroffen hat, waren freundlich zu ihm. Er spricht schon ein bisschen Deutsch. Sein neuestes Wort ist: Polizei. Das sind für ihn nun die Männer, die ihn schlecht behandelt haben. Mit Händen und Füßen erzählt er vom Donnerstagabend. Wie der Bus vor den Häuserblocks angekommen sei, er die Menge davor sah und mitten in ihr auch einen Mann, der ihn angeschaut und eine Geste gemacht habe. Finger quer über den Hals – den Hals abschneiden.

Auf keinen Fall wollte er zu diesen Menschen hinaus. „Wir hatten Angst“, sagt er. „Eine Frau im Bus hat geweint.“ Alles ging viel zu schnell. Plötzlich standen Polizisten vor ihm, erzählt er, einer packte ihn. Khatum macht ihn nach, den Würgegriff, die Hände, die sich grob in sein Gesicht gedrückt haben. „Aua“, sagt er. Mehr Deutsch fällt ihm dazu nicht ein.

Urgestein des Ortes

Von allen anderen ist die Szene mittlerweile ausführlich und empört diskutiert worden. In einer eilig anberaumten Pressekonferenz der zuständigen Polizeidirektion Chemnitz verteidigt Polizeipräsident Uwe Reißmann das Verhalten seiner Männer: Die Anwendung körperlicher Gewalt sei gerechtfertigt gewesen. Man habe „einfachen unmittelbaren Zwang“ gegen drei der Flüchtlinge anwenden müssen, da diese die umstehende Menge – unter anderem, indem sie den Stinkefinger zeigten – provoziert und so die Lage zusätzlich verschärft hätten. Die Beamten hätten den Protestierern zwar Platzverweise erteilt, sagt Reißmann. Dies sei aber nur mit Gelächter quittiert worden. Gegen ein Kind und einen Jugendlichen liege wegen der Stinkefingergeste nun eine Anzeige vor.

Diese Einstellung und diese Handlungen der Menschen lassen einen schämen Deutscher zu sein. Brennende Häuser und Straßenblockaden mit johlendem Mob ist nicht nur peinlich, das ist kriminell.

schreibt NutzerIn milan

Die ganze Aufregung, die seit Donnerstagabend um Clausnitz herrscht, kann Lothar Wunderlich nicht verstehen. Der 72-Jährige wohnt im Haus neben Daniel und Susann Korb, und das bereits seit 1969. Wunderlich ist ein Urgestein des Ortes, er kümmert sich um die hiesigen Wanderwege und das Heimatmuseum. Das hat er gerade besichtigt – Unbekannte haben es besprüht. „Clausnitz aufs Maul“, steht auf der Fassade. Deswegen ist er ziemlich sauer. Von der Ankunft der Flüchtlinge und dem Menschenauflauf vor der Unterkunft hat er einen anderen Eindruck. „Unter den Protestlern waren viele Leute, die ich kannte, ein Querschnitt durch Clausnitz. Vom Jugendlichen bis zum Rentner. Ein paar Familien haben sogar ihre Kinder mitgebracht.“ Insgesamt sei der Abend friedlich verlaufen. „Das war eine ganz ruhige Protestmaßnahme, wo es auch keine Konfrontationen gab. Bis auf ein paar Großmäuler vielleicht.“

Es gibt Clausnitzer, die das ähnlich sehen. Wer ein paar Tage später – nachdem der Reporterschwarm vom Fernsehen, dem Radio und den Zeitungen wieder weg ist – um die Häuserblocks geht, dort klingelt, um Auskunft bittet, wem dann also überhaupt noch die Tür aufgemacht wird, der trifft beispielsweise einen Herrn mit freiem Oberkörper. Unzufrieden sei er mit der Berichterstattung, sagt er, sie träfe nicht die ganze Wahrheit. Er war am Donnerstag auch unten auf der Straße und habe sich das Ganze angesehen. Die Wahrheit, wenn man sie erfahren wolle, koste allerdings 50 Euro.

Nee, geht leider nicht. Na gut, sagt der Mann, der offenkundig Redebedarf hat. Er deutet an, was einem entgangen sein wird. Die Halsabschneidergeste, die sei auch aus dem Bus raus auf die Straße gemacht worden. Dass die Asylbewerber so lange nicht aus dem Bus gestiegen sind, habe daran gelegen, dass sie nicht aufs Dorf, in die Einöde gewollt haben.

Die Flüchtlinge erinnern sich anders

Die Flüchtlinge erinnern sich anders. Ein junges Paar aus dem Iran öffnet schüchtern die Tür. Sie haben ein Baby und sie fürchten, dass sie in Clausnitz nicht sicher sind. Deutsch sprechen sie nicht. Der Mann tippt in sein Handy, die Übersetzungsapp zeigt an: „Wir wollen wieder nach Dresden.“ Und: „Auch alles zu weit weg hier.“ Der nächste Supermarkt ist am anderen Dorfende, und wie oft am Tag fährt hier wohl ein Bus?

Auch Luai Khatum, der Flüchtlingsjunge aus dem Libanon, hofft, dass er mit seiner Familie nicht in Clausnitz bleiben muss. Die vergangenen drei Monate waren sie in einem Dresdner Erstaufnahmelager untergebracht, dort hätten sie sich wohlgefühlt und Kontakte zu Helfern geknüpft. „Dresden gut – hier nicht gut“, sagt Khatum.

Dabei haben sich da längst 15 Clausnitzer zusammengetan, um ihm und den zwei Dutzend anderen zu helfen. Kirchgemeindemitglieder sind das und deren Umfeld. Sie drucken Flyer mit den Bus- und Bahnfahrplänen drauf, Übersetzungshilfen, Öffnungszeiten, Sprechstunden. Sie kommen vorbei, beruhigen, fragen, nehmen erste Kontakte auf. Sie bringen Opfer. Die erste Morddrohung ist schon eingetroffen bei ihnen, deshalb fallen hier nicht ihre Namen.

Luai Khatum weiß dies alles noch nicht, so wie das iranische Paar noch nicht weiß, dass der Bus wochentags 18 Mal in Clausnitz hält. Und einen Bahnhaltepunkt gibt es auch. Mit einem Mal umsteigen ist man in Dresden.

Es ist Sonntagvormittag, kurz vor zehn. Aus dem Schnee ist Regen geworden. Er hat das Weiß vom Erzgebirgskamm abgewaschen und dringt durch die Jacken der ersten Clausnitzer, die an diesem Morgen überhaupt die Straßen betreten. Das Bronzegeläut der Kirche läutet, der Gottesdienst fängt gleich an.

Was predigt man an so einem Tag? Man predigt Gottes Botschaft. Hoffnung, Nächstenliebe, Frieden. Man spricht vom Donnerstagabend, von der Scham und der Angst seitdem. Man predigt eine Mischung aus Gottvertrauen und dem Aufruf, eben nicht allein darauf zu bauen. Man muss selber machen. „Ich habe geschwiegen, wo ich hätte reden sollen. Ich habe den Dingen ihren Lauf gelassen, weil meine Angst größer war als mein Vertrauen zu dir.“ Man sitzt, sagt die Predigerin, bis sechs Uhr morgens an so einem Text.

Eindeutigkeiten und Widersprüche

Noch bevor der Gottesdienst beginnt, geht eine der Besucherinnen auf eines der Mitglieder der Kirchgemeinde zu. Wie sehr sie die Solidaritätskundgebung der Fremden zu Tränen gerührt habe am Abend zuvor. Und ob sie fortan irgendwie helfen könne.

Das eine Clausnitz gibt es nicht. Es gibt hier viele Landschaftsschutzgebiete und nur wenige Menschen. Manche sind laut und abstoßend, manche warm und stark. Es ist hier wie an anderen Orten auch, nur dass in Sachsen die Lauten lauter sind als anderswo. Wenn dann noch ein fragwürdiger Polizeieinsatz dazukommt, kann man fast schon sicher sein, in welchem Bundesland man sich befindet.

Es gibt Eindeutigkeiten hier und Widersprüche, die sind nur noch absurd.

Der Leiter der Flüchtlingsunterkunft ist nicht zu sehen. Nur seine Nummer hängt an der Tür, für Notfälle. Thomas Hetze geht ans Telefon, will allerdings nichts sagen. Beziehungsweise: „Ich darf keine Aussage tätigen.“ Das sei eine Anweisung, die er bekommen habe, denn seine Person sei umstritten, „das ist ja jetzt bekannt“.

Thomas Hetze ist Mitglied der AfD. Einer Partei, in der zuletzt diskutiert wurde, an Grenzen auf Flüchtlinge zu schießen. Für Hetze, der seine Mitgliedschaft bestätigt und schließlich doch noch etwas sagt, ist das kein Widerspruch: „Ich will Flüchtlingen helfen, aber ich bin eben gegen die große Politik.“

Die große Politik, das sind diejenigen, die zulassen, dass „mafiaartige Strukturen vorhanden“ seien, die „Kapital aus der Not anderer ziehen“. Asylbewerberunterkünfte betreiben zum Beispiel. Der „Staatsapparat“ und dessen höhere Beamte, die „in einer Scheinwelt“ leben. Amerika, das einem Masterplan folgend Nordafrika und den Nahen Osten destabilisiere und „mit den folgenden Flüchtlingswellen auf eine Schwächung Europas abzielt“. Weitere Punkte: der Mangel an europäischer Solidarität, TTIP, der „Angriffsgürtel gegen Russland“, das schlechte Niveau von Sachsens Schulen gegenüber dem in DDR-Zeiten.

Auf einer ihm zugeschriebenen Rede bei einer AfD-Veranstaltung im vergangenen November soll Hetze das alles gesagt haben. Es muss die große Rede des kleinen Mannes gegen eine komplett unübersichtliche Welt gewesen sein. Eine Welt, der ein Ordnungsprinzip fehlt. Am Ende kommt der kleine Mann dann oft auf die Formel „Wir oder die“. Vielleicht dieser Ordnung halber kam Hetze dann noch einmal zurück auf die Mafia, auf Rechtsanwälte diesmal und deren Recht auf Honorierung, wenn sie Asylverfahren betreuen. Heimbetreiber und Anwälte, Profiteure der Flüchtlingskrise, bezahlt von Steuergeld.

Jeder im Ort, den man auf Hetzes Widersprüche als Heimleiter und AfD-Aktivist anspricht, und der antwortet, sagt auch Folgendes. Der Hetze, der hat einen Bruder. Der Bruder besitzt eine Metallbaufirma. Auf dem Hof dort stehen haufenweise dunkelblaue Schiffscontainer. Die Firma richtet die Container her, und dann kommen sie nach Leipzig. In ein großes Asylbewerberlager.

Der Hetze, der hat noch einen Bruder. Der ist angestellt bei dieser Metallbaufirma. Montags fährt der immer nach Dresden. Zur Pegida-Demo.

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