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Das bist du. Biometrische Gesichtserkennung.

© Gary Waters/Imago

Clearview hat das Tabu gebrochen: Jedes Gesicht wird zur Datenbank

Mit jeder Minikamera können auf der Straße Persönlichkeitsprofile in Echtzeit abrufbar werden, die kaum noch Geheimnisse offen lassen. Ein Kommentar.

Das Gesicht hat eine herausragende Bedeutung im digitalen Raum erlangt. Milliarden Bilder in den sozialen Netzwerken zeigen Porträts, entweder das eigene, oft als Selfie, oder das von Freunden, Bekannten oder auch nur zufällig ins Bild Gerutschten. Innerhalb weniger Jahre ist auf Plattformen wie Instagram, Facebook, Twitter und Abertausenden von Websites das größte Gesichtsarchiv der Menschheitsgeschichte entstanden. Nur war es bisher nicht umfassend durchsuchbar.

Das hat sich jetzt geändert, so berichtet es am Wochenende die „New York Times“. Die bisher im Geheimen operierende Firma namens Clearview, ein kleines New Yorker Start-up, hat Milliarden Gesichter aus dem Internet herausgescannt, nach mathematischen Kriterien in Formeln zerlegt und in einer gigantischen Datenbank durchsuchbar gemacht. Jedes neue Abbild kann innerhalb kürzester Zeit abgeglichen werden und erlaubt die rasche Identifikation von gänzlich Unbekannten.

Dieser Tabubruch kann nicht ernst genug genommen werden. Jedes Gesicht ist damit zu einer offenen Datenbank geworden, über die sich sämtliche im Netz zuordenbare Daten abrufen ließen.

Kombiniert mit den schon heute vorhandenen machtvollen Datenbanken über Nutzungsverhalten, Vorlieben, Beruf, Wohnort und vielen im Marketing längst genutzten Parametern sind plötzlich mit jeder Minikamera auf der Straße Persönlichkeitsprofile in Echtzeit abrufbar, die kaum noch Geheimnisse über den Einzelnen bestehen lassen. Das Gesicht wird zum unbeschützten Einfallstor für einen Blick in die Privatsphäre aller Bürger.

Schon bisher hatte der ständig wachsende Schatz an menschlichen Abbildern zunehmende Begehrlichkeiten verursacht. Ermittler wollen mithilfe der Gesichtserkennung Verbrechen aufklären, Regime wollen ihre Bürger noch intensiver überwachen und Konzerne wollen damit Geld verdienen.

Systematische Ausbeute des Bilderschatzes

Was sich indes bisher keiner traute, insbesondere nicht die großen Konzerne: den durch soziale Medien und Webseiten angesammelten Bilderschatz des Internets systematisch auszubeuten, wie es jetzt offenbar das Start-up Clearview getan hat.

Sollte die Technologie – legal oder illegal – in die Öffentlichkeit gelangen, würde ein Menschheitsalbtraum Realität werden, vor dem Datenschützer und Bürgerrechtler seit Jahren gewarnt haben. Wer immer Zugriff auf die Clearview-Datenbank hat, kann innerhalb weniger Sekunden einen Großteil der Menschen identifizieren, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung aufhalten.

Natürlich gibt es nicht von jedem Menschen Fotos im Netz – aber in einer Gesellschaft, die zunehmend in Bildern atmet, werden es sekündlich mehr. Sollten Clearviews Dienste oder die einer ähnlichen Anwendung tatsächlich den juristischen Feuertest bestehen und gar auch Privatpersonen zugänglich werden, bedeutet es das Ende der Anonymität, wie wir sie kennen.

Die Firma hat zwar ihre Anwendung nach eigenen Angaben bisher nur an mehrere Hundert Polizeidienststellen der USA verkauft. Aber der hinter ihr stehende und bisher nur wenigen Nerds bekannten Australier Hoan Ton-That hat bereits eine Schnittstelle zu digitalen Brillen programmiert, mit deren Hilfe nicht nur Personen aufgenommen, sondern auch deren Identität unmittelbar vor den Augen des Betrachters abgebildet werden könnte.

Wie so oft hat Technologie zwei Seiten. Doch bei einer umfassenden Gesichtserkennung, wie sie Clearview programmiert haben will, könnten die Extreme kaum weiter auseinanderliegen: Für die Aufklärung von Straftaten wäre ein solches Tool zwar hilfreich, für die Allgemeinheit allerdings wäre es geradezu diabolisch.

Das Tabu ist gebrochen

Haben sich Gesetzgeber und Politik bisher darauf verlassen, dass es mit einer massentauglichen Anwendung der Gesichtserkennung noch eine Weile dauern wird, ist der Geist jetzt aus der Flasche. Selbst wenn Clearviews Anwendung noch kontrolliert werden kann, ist das Tabu, dem sich die Branche bisher unterworfen hat, hiermit durchbrochen.

Was sollte Unternehmen und Behörden in weniger rechtsstaatlich organisierte Zonen der Welt jetzt noch davon abhalten, es Clearview gleichzutun? Zumal offenbar die Ermittler in den USA davon ausgehen, dass die Nutzung der Clearview-Datenbank zumindest in den Vereinigten Staaten vom Gesetz gedeckt ist.

Der Gesetzgeber auf dieser Seite des Atlantiks muss nun rasch handeln. Will er Ermittlungsbehörden und Staatsschutz den Zugriff auf die neue Technologie erlauben? Die Hilfe von einer so umfassenden Datenanwendung bei der Verbrechensaufklärung kann essenziell sein – hat aber dramatische datenschutzrechtliche Implikationen. Zudem können öffentlich zugängliche Bilder in erheblichem Maße manipuliert sein, also ohnehin allenfalls nur als ein Hilfsmittel dienen.

Oder ist der Preis, den eine Gesellschaft für diese Technik zahlen muss, zu hoch? Schon heute nutzen Länder wie China die Bilderkennung als machtvolles Kontroll- und Unterdrückungstool. Die umfassende Gesichtserkennung hat das Potenzial, auch eine demokratische Gesellschaft zu sprengen. In der Hand der falschen Dienste. Oder als Anwendung für jedermann.

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