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Strafen der EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager reichen nicht, um der US-Tech-Konzerne einzuholen.

© John Thys/AFP

Corona beschleunigt weltweite Spaltungen: Facebook, Amazon und Alibaba strotzen vor Kraft und Europa schaut zu

Europäische Antworten sind dringlicher denn je. Ebenso eine globale Wirtschaftspolitik, denn Entwicklungsländer drohen völlig abgehängt zu werden. Ein Gastkommentar.

Professor Jörg Rocholl PhD ist Präsident der internationalen Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin.

Interruption oder Disruption? Das ist eine zentrale Frage in der Debatte über die Folgen der Corona-Pandemie. Werden wir nach einer Art Winterschlaf mehr oder weniger so weiter wirtschaften wie vor der Krise? Oder erwartet uns eine Zukunft, die mit der Vergangenheit nicht mehr viel gemein hat?

Für abschließende Antworten ist es noch zu früh, dennoch zeichnet sich ab, dass  der weltweite wirtschaftliche Abwärtstrend nicht auf alle Akteure und Regionen gleich verteilt sein wird. Erste Tendenzen für die Zeit während und vor allem nach der Pandemie lassen sich bereits erkennen – in Europa, den USA, China und darüber hinaus. 

In Europa stand Deutschland schon vor der Krise besser da als die anderen großen europäischen Volkswirtschaften, Frankreich etwa, Italien oder Spanien. Wegen dieses Ungleichgewichts sieht die Bundesrepublik sich seit Jahren mit massiven Forderungen konfrontiert, endlich mehr staatliche Mittel zu bewegen und öffentliche Investitionen zu erhöhen.

Damit verbunden ist die Hoffnung, höhere Investitionen in Deutschland könnten dazu beitragen, die globalen Leistungsbilanzdefizite zu verringern und die Volkswirtschaften anderer Staaten zu beleben.

Die Nachbarn und die EU schauen mit Argusaugen auf deutsche Staatshilfen

Aber wäre das wirklich so? Stellt sich nicht vielmehr die Frage, ob hiesige Unternehmen durch verstärkte staatliche Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur oder verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten für Forschung und Entwicklung nicht noch wettbewerbsfähiger und dominanter werden könnten – statt der erstrebten Verringerung des Leistungsbilanzdefizits also am Ende dessen Vergrößerung stünde?  

Bemerkenswert ist jedenfalls: Seitdem Corona zugeschlagen hat, beobachten das Ausland und die Europäische Kommission die milliardenschweren deutschen Hilfspakete mit Argusaugen.

Man sieht die Gefahr, dass ein Staat mit soliden Staatsfinanzen wie Deutschland diesen Vorteil in der Krise gegenüber anderen Ländern gnadenlos ausspielt und seinen Unternehmen nachhaltige Vorteile verschafft.

Schon deshalb ist es klug, dass die Bundesregierung auf europäische Lösungen zur Bewältigung der Krise drängt.  

Die Technologiegiganten und Amazon strotzen vor Kraft

In den USA und China zählten die großen Tech-Konzerne schon vor der Krise zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Seit Corona gab es den schnellsten Aktienmarktcrash aller Zeiten – und zugleich die schnellste Erholung. Die Aufholjagd trieben vor allem amerikanische und chinesische Tech-Unternehmen, deren Aktienkurse sich zuletzt überdurchschnittlich gut entwickelt haben.

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Auch die Umsätze der Technologiegiganten legten rasant zu.  So erreichten Microsoft und Facebook im ersten Quartal 2020 ein Plus von 15 beziehungsweise 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.  Der Handelsriese Amazon steigerte die Erlöse sogar um 26 Prozent, was angesichts des weltumspannenden Lockdowns und dem damit verbundenen Rückenwind für Online-Bestellungen auch nicht überrascht.

Die beiden am höchsten bewerteten chinesischen Unternehmen Alibaba (plus 22 Prozent) und Tencent (plus 26 Prozent) konnten ihre Umsätze im ersten Quartal ebenfalls stark steigern – vermutlich auch deshalb, weil es in China die ersten wirtschaftlichen Einschränkungen bereits Ende Januar gab. Es ist zu erwarten, dass die Kunden ihren verstärkten Online-Konsum auch dann beibehalten werden, wenn sich die Lage wieder normalisiert. 

Europas Unternehmen brauchen Strategien, wie sie mit der Dominanz der anderen umgehen wollen

Darüber hinaus haben sich die amerikanischen Tech-Konzerne Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft auf große Shoppingtour begeben. Während viele Unternehmen weltweit um ihr Überleben kämpfen und nur durch staatliche Rettungspakete am Markt bleiben können, strotzen diese Konzerne vor Kraft.

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Europäische Unternehmen werden strategische Antworten auf die Frage finden müssen, wie sie mit der zunehmenden globalen Dominanz amerikanischer und chinesischer Unternehmen umgehen wollen. Gefordert ist aber auch die europäische Politik, wenn die USA und China aus den Erfolgen ihrer Technologiegiganten politische Ansprüche ableiten.

Eine angemessene europäische Antwort erscheint umso dringlicher, als die Beziehungen zu beiden Staaten sich aus europäischer Sicht zunehmend schwieriger gestalten. 

Die Spaltung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vertieft sich

Doch wie sieht es jenseits von Europa, USA und China und aus? Die Spaltung, die wir derzeit beobachten, verläuft nämlich nicht nur zwischen alter und neuer Wirtschaft. Sie verläuft auch zwischen Industriestaaten und Entwicklungs- beziehungsweise Schwellenländern.

Die erlebten in den vergangenen Jahrzehnten zwar dank der Globalisierung eine positive wirtschaftliche Entwicklung, die sich trotz Bevölkerungswachstums vor allem in einer deutlichen Verringerung der Armutsquote manifestierte. Viele Bereiche der dortigen öffentlichen Infrastruktur sind aber nach wie vor deutlich von westlichen Standards entfernt.  

Während beispielsweise in einigen europäischen Ländern ein Arzt auf 300 Menschen kommt, sind es in manchen Staaten Afrikas bis zu 70 000 Menschen pro Arzt. Laut einem Bericht des Auswärtigen Amtes gibt es in den Krankenhäusern von zehn afrikanischen Staaten trotz Corona kein einziges Beatmungsgerät.

Außerdem sind  Wasser, Seife und Elektrizität oft Mangelware – jeder Versuch zur Eindämmung der Pandemie könnte  so zum hoffnungslosen Unterfangen werden. 

Privates Kapital flieht aus überschuldeten Staaten

Wirtschaftlicher Abschwung und steigende Infektionszahlen treffen in Entwicklungs- und Schwellenländern auf schlecht ausgestattete Gesundheitssysteme und hohe Verschuldungsquoten. Corona setzt diesen Staaten also besonders stark zu, gesundheitlich wie wirtschaftlich.

Oft können die Länder ihre öffentliche Schuldenlast nicht mehr tragen, was die Flucht privaten Kapitals beschleunigt. Die enormen Herausforderungen der Industrieländer  potenzieren sich für die Entwicklungsländer. Corona beleuchtet die Notwendigkeit einer globalen Perspektive der Wirtschaftspolitik wie unter einem Brennglas vergrößert. 

Bestehende Entwicklungen werden durch die Coronakrise beschleunigt

Interruption oder Disruption? Die Antwort lautet wohl eher Akzeleration. Vor Corona bestehende Entwicklungen werden durch das Virus jetzt nochmals deutlich beschleunigt und dürften unser Leben in den kommenden Jahren entscheidend prägen. Diese Akzeleration kann im schlimmsten Fall sogar zu vertieften Spaltungen führen, wenn Wirtschaft und Politik nicht angemessen und mit globalem Blick auf das Ausmaß der gegenwärtigen Herausforderung reagieren. 

Jörg Rocholl

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