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Wenn Ausgehbeschränkung zu Brutkästen „häuslicher Gewalt“ führen, ist das kein Privatproblem. Das geht alle an.

© imago images/Michael Eichhammer

Corona und die Ausgehbeschränkungen: Häusliche Gewalt ist kein Schicksal - sondern ein Problem, das alle angeht

Täglich erleben Frauen Gewalt in diesem Land. Derzeit, da alle angehalten sind, zuhause zu bleiben, sind sie noch gefährdeter. Was ist zu tun? Ein Essay.

Ein Essay von Caroline Fetscher

An dem Schreien stimmt etwas nicht. Irgendwo brüllt ein Kind so laut, so pausenlos, dass es bis in den Hinterhof zu hören ist, beim Müllfortschaffen am Mittag. Draußen auf der Straße zeigt sich das ganze kleine Drama, vor ein paar Tagen in Berlin in dieser Lage: Schulen und Kindergärten sind leer, Büros und Läden geschlossen, Familien auf sich zurückgeworfen.

Die Schreie kommen von der Grünanlage her. Auf dem Gehweg steht ein Paar und blickt auf die Tochter, etwa drei Jahre alt. Hochrot angelaufen steht das Mädchen da, es brüllt und schluchzt in Schüben. Vergeblich versucht das Kind, zwischen den Schreien Worte herauszubringen. Es senkt den Kopf, rudert mit den Armen, schreit und schreit, wird kurz still, als es Luft holt, weint weiter und hebt Kopf und Arme hoch, als wollte es Hilfe heraufbeschwören.

Vater und Mutter haben die Hände in den Taschen, treten einen Schritt zurück und grinsen einander an. Ein Passant bemerkt aus einiger Entfernung: „Verzweifeltes Kind und feixende Eltern, ist ja unerträglich!“ Die Mutter kontert: „Haben Sie keine anderen Sorgen? Halten Sie gefälligst Abstand! Und rufen Sie doch die Polizei an!“

„Ich rufe ihr Herz an, nicht die Polizei“, erwidert der junge Mann.

Wer kein schwieriges Kind hat, was weiß der schon?

Da packen die Eltern ihre Taschen und ihr Kind und eilen weiter. Es wirkt, als ob sie vor seinen Worten flüchten. Vielleicht haben sie die typischen, Rationalisierungen solchen Verhaltens parat. Die kleine Lotte ist in der Trotzphase, bei sowas soll man nicht nachgeben, was mischen sich andere da ein, die haben kein so schwieriges Kind, sollen die mal den ganzen Tag mit unserem Gör allein sein müssen! Und so fort. Die Frage ist, was passiert, wenn eine solche Familie allein in ihren vier Wänden ist.

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An Deck des Krisendampfers steht jetzt scheinbar jeder für sich. Mehrere Meter vom Anderen entfernt, die Hände an der Reling sucht der Blick den Horizont nach dem Silberstreif ab, der Aussicht auf Normalität. Die hat sich für Wochen, Monate verabschiedet, soviel ist klar an Deck. Es herrscht Vorsicht in der Pandemie, eine Art Starre in der Mischung aus Hoffen, Verharren und Abstand.

Abstand im Außen, unerträgliche Nähe im Innern

Vieles wird dabei stiller, verhaltener und langsamer. Doch unter Deck ist mehr los denn je. Vor lauter Abstand im Außen wird die Nähe im Inneren oft unerträglich. In den Wohnungen wird es angespannter. Erwartet werden zunehmend Berichte über Familien und Paare mit Budenkoller, Frauenhäuser organisieren Notprogramme, Jugendämter können derzeit nicht verantworten, Sozialarbeiter in Familien zu schicken, „aufsuchende Hilfen“ sind einstweilen kaum möglich. Für das Corona-Virus gibt es immerhin Tests. Für die psychische Lage in privaten Quartieren existieren keine Tests. Noch fehlen aussagestarke Statistiken, doch Anrufe bei Hilfe-Hotlines nehmen bereits zu.

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Harald Schmidt, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention von Bund und Ländern, geht von der Annahme aus, dass sich „der familiäre Stress“ in steigender Gewalt entlädt, wie jedes Jahr an den Feiertagen der Weihnachtszeit: „Angaben von Frauenhäusern und Telefonnotdiensten lassen momentan schon darauf schließen, dass häusliche Gewalt zunimmt.“

Angst, Unsicherheit und erzwungene Nähe kommen während der Coronakrise dazu – es fehlen die außerfamiliären Pufferzonen, nicht nur die Schulen und Büros, auch die Spielplätze, Ausflugslokale, Kneipen, Fitnesscenter, die Orte zum Abreagieren und Entzerren privater Nahräume. So können Familien zur Black Box werden, zu Orten ohne soziale Kontrolle. 

„In jeder Krise wächst die Ungleichheit der Geschlechter“

Dass Wohnungen in Zeiten der Ausgehbeschränkung und Quarantäne zu Brutkästen „häuslicher Gewalt“ werden können, weiß man aus der Abschottungsphase der chinesischen Provinz Wuhan, wo vor allem Frauen Betroffenheit meldeten.

„In jeder Krise wächst die Ungleichheit der Geschlechter“, sagte schon Anfang März Maria Holtsberg, UN-Beraterin für Frauen und humanitäres Risiko-Management in Asien, zum Sender BBC. Von dort berichteten auch feministische Aktivistinnen wie Guo Jing, dass Anrufer, die über Gewalt zwischen Paaren und Eltern klagten, die Ansprechpartner fehlen.

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Aber es gab und gibt „häusliche Gewalt“ auch vor dieser Krise – lange einfach hingenommen, wie Naturereignisse. Schon der Begriff ist, gelinde gesagt, irreführend. Das Adjektiv „häuslich“ ist auf den ersten Blick schlicht ein beschreibendes, tendenziell gemütliches Wort, bezogen auf das Verhältnis der Menschen zum Haus, zum Zuhause. Jemand „lässt sich häuslich nieder“, heißt es, oder „ist ein häuslicher Typ“, also lieber daheim, als auf Partys oder im Kino.

Erst seit 2015 liefert das Bundeskriminalamt statistische Auswertungen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland, die jüngste stammt von 2018 und listet 140.755 überwiegend weibliche Opfer auf, unter anderem von Mord und Totschlag, Körperverletzung, sexualisierter Gewalt, Bedrohung und Freiheitsberaubung.

Drei Frauen pro Woche sterben durch Partnergewalt

Rein statistisch wird hierzulande jede Stunde eine Frau von einem Partner verletzt, geschieht jeden Tag ein Tötungsversuch an einer Frau und sterben etwa drei Frauen pro Woche durch Tötungsdelikte – 141 waren es im Jahr 2018. Nicht viel geringer ist die Zahl der Kinder, die durch das Einwirken von Eltern, deren Partner oder andere „Personensorgeberechtigte“ ums Leben kommen, durch Frauen wie durch Männer. Etwa alle drei Tage stirbt auf diese Weise ein Kind, die meisten im Vorschulalter.

Diese Statistiken sind kein Geheimnis. Sie liegen öffentlich vor und werden jedesmal nach der Publikation von einer öffentlichen Welle der Aufmerksamkeit begleitet, die ein paar Tage anhält, um dann erneut an die Fachwelt delegiert zu werden, die für ihr Forschen und Handeln kämpfen muss. Würden dauerhaft sechs Frauen und Kinder pro Woche Terrortaten zum Opfer fallen, wäre die Gesellschaft dauerhaft alarmiert, es würde vermutlich an Mitteln nicht fehlen, das zu stoppen.

Nicht jede Eskalation mündet in Taten. Doch zu jeder vollendeten Tat gehören abertausende Vorstufen und „Vorfälle“, die von der Gesellschaft noch immer hingenommen werden. Vielerorts bleibt es auch bei den Ketten und Ketten von „Vorfällen“. Unbekömmlich bis schädlich ist oft bereits das Klima der Kleingruppe, wie bei der oben geschilderten Familie in der Grünanlage.

Auch Schweigen, Verhöhnen, Ignorieren, Entwerten, das Unterlassen von Trost, Entschuldigung, Hilfe und Beistand sind allesamt Ausdruck privat verübter Gewalt. Das verzweifelte Kind mit den grinsenden Eltern ruft kein Jugendamt auf den Plan.

Doch das Verhalten solcher Eltern hat Folgen. Die weinende Frau und der Mann, der ihre Emotionen wegwischt sind noch kein Fall fürs Frauenhaus. Aber auch das hat Folgen. Totschlagen wie Totschweigen, beides sind Gewalttaten.

Private Autoritäten, väterliche Gewalt

Destruktive Potenziale familiärer Kleingruppen sind jedoch alles andere als Schicksal. Sie sind nicht genetisch bedingt und sie sind nicht primär an Milieus gebunden, wenngleich es schichtspezifische Ausprägungen gibt. Vielmehr liegen die Gründe für destruktive Muster, oftmals weitergereicht von Generation zu Generation, im zähen Prozess der Zivilisation.

Über Jahrhunderte galt die Gewalt privater Autoritäten wie Vater, Mutter oder Gatte über Jahrhunderte als legitimer Ausdruck privater Herrschaftspositionen in Haushalten. „Väterliche Gewalt“ war bis ins 19. Jahrhundert ein Rechtsbegriff, ihre Ausübung geschah unter dem Vorwand der Disziplinierung der Familie und des Einhegens unliebsamer Freiräume von Haushaltsmitgliedern.

Der „Herr im Haus“ hatte das Sagen, wie der Herrscher im Land, im Mikrokosmos durfte, sollte sich der Makrokosmos spiegeln. 1958 wurde das „Züchtigungsrecht des Vaters“ in Deutschland - im Zuge der Gleichberechtigung der Frauen – zunächst ausgeweitet auf die Mütter, die freilich ohnehin, eingebunden in die Logik der Gewalt, seit je selber zuschlugen, oft aus Rache an erlittener Gewalt.

Gesetzlich verboten wurde Gewalt gegen Kinder in der Bundesrepublik erst unter der rotgrünen Regierung Ende 2000 – und heute spricht das Gesetz vom „elterlichem Sorgerecht“. Manchmal wütend zu sein auf ein Kind, eine Partnerin, einen Partner ist keine Straftat, kein Vergehen. Es kommt darauf an, wie wir handeln, wie wir uns dessen bewusst sind, was wir tun, unterlassen und sagen.

Sehnsucht nach einer besseren Normalität

Kristallklar hat der Soziologe und Kindheitshistoriker Lloyd de Mause erklärt: „Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.“

Das Erwachen begann mit den frühen Ideen der Demokratie, mit der Idee vom Gewaltmonopol des Rechtsstaats, der niemandem private Gewaltausübung zugesteht – im Kern ist das der Inhalt von Artikel 1 des Grundgesetzes, die Voraussetzung für gelingende, bekömmliche Prozesse der Zivilisation.

Wenn die aktuelle Coronakrise einmal vorüber ist, werden nach und nach mehr Berichte und Geschichten aus der Black Box Familie ans Licht kommen. Im guten und günstigen Fall entfalten sie eine öffentliche Wirkung, die weit über unseren aktuellen Horizont mit der Sehnsucht nach „Normalität“ hinausweist, und eine tiefere Sehnsucht antreibt nach einer noch besseren Normalität auch und gerade in den Räumen des Privaten.

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 Hotlines und Hilfsangebote in der Krise 

Bundeshilfetelefon "Gewalt gegen Frauen": kostenlos unter 08000 116 016 (rund um die Uhr, täglich), Online-Beratung: www.hilfetelefon.de

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: kostenlose und anonyme Beratung unter 0800 – 22 55 300 (Mo, Mi, Fr: 9-14 Uhr, Di und Do: 15 bis 20 Uhr), Online-Beratung unter www.save-me-online.de

Beratungsstellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen:  www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-vor-ort.html

Frauenhäuser bundesweit: www.frauenhauskoordinierung.de/hilfe-bei-gewalt/frauenhaussuche/

Bundesbeauftragten für Missbrauch : www.kein-kind-alleine-lassen.de

Bundesverband der Frauenberatungsstellen https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116111 (kostenfrei von Handy und Festnetz, Mo-Sa 14-20)

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung https://www.kindergesundheit-info.de/coronavirus-elterninformationen

Nationales Zentrum frühe Hilfen https://www.elternsein.info/beratung-anonym/anonym-kostenlos/corona-zeiten-beratung-jetzt-fuer-eltern/

Ökumenisches Corona-Seelsorgetelefon von 8 bis 24 Uhr unter 030 403 665 885

Muslimisches Seelsorgetelefon 24 Stunden unter 030 4435 09821, dienstags auch auf Türkisch.

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